Ausgleich, nicht Umsturz

Predigt zu Maria Himmelfahrt, Lk 1,19-56

Liebe Gottes-Jublerinnen, -Jubler
Vor dreissig Jahren, am 8. September 1992, legte ich mit fünf weiteren Novizen im Kapuzinerkloster Solothurn meine einfache Profess ab. Damals wünschten wir Novizen vom Prediger eine Auslegung zum Magnifikat – wie wir es heute im Tages-Evangelium gehört haben. Doch höre, lese und verstehe ich diesen marianischen Lobgesang heute anders als bei meinem Ordenseintritt.

Vor dreissig Jahren war ich voll Tatendrang und wollte die Welt verändern und verbessern. Im Kopf sprudelten die Welt-Veränderer-Predigten und -Taten nur so dahin. Die Kapuziner waren die Gemeinschaft, mit der ich diesen Umsturz tun wollte, und mit den Brüdern am Reich Gottes mitarbeiten konnte. Ich suchte eine Gemeinschaft, die gegen die Ungerechtigkeiten der Welt aufsteht, den Bösen den Garaus macht und die Unterdrückten befreit. Das Magnifikat war für mich ein Befreiungsgesang der Kleinen, die sich gegen die Grossen stark machen. Da wird umgeschichtet, neu verteilt. Die Mächtigen neu unten und die Unterdrückten neu oben. Die Welt wird auf den Kopf gestellt.
Doch steht das wirklich im Magnifikat?

Auch wollten wir Novizen damals, dass Gemeinschaft im Gottesdienst ernstgenommen wird. Wir brachten dies damals ins Hauskapitel und kamen durch. Die Priester forderten in den folgenden Gottesdiensten die Besucher und Besucherinnen dazu auf, während dem Gottesdienst in die vorderen Reihen zu kommen und nicht hinten in der Kirche sitzen zu bleiben. Ob die Menschen daran Freude hatten oder sich eher vergewaltigt vorkamen?

Das war vor dreissig Jahren. Und heute? Vieles anders!

Ehrlicherweise schäme ich mich heute selber etwas, während dem Gottesdienst vorne in der Kirche zu sitzen. Mein Platz ist gefühlsmässig im hinteren Drittel dieser Kirche. Und das nicht, weil Jesus in einem Gleichnis das hinten sitzen gelobt hat und das vorne Sitzen in den Zusammenhang von Selbstgerechtigkeit gestellt hat. Nein, es ist die gesunde Scham, die mir sagt, da hinten ist ein guter Platz und da bist du zu Hause; da fühle ich mich wohl.

Bin ich damit auf dem Holzweg? Nein, damit bin ich ein Mensch unserer Zeit. Der Theologe Kristian Fechtner verbindet für heutige Christen und Christinnen Scham und Religion. Er spricht von einem diskreten Christentum. Und das zeigt sich konkret auch darin, dass viele Menschen lieber hinten in der Kirche sitzen und so etwas Distanz zum Altar haben. Das diskrete Christentum zeigt sich aber auch im Alltag; und es ist immer mehr meine Art von Glauben geworden.

Von Maria lesen wir in Lukas 2,19: «Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen». Ja, eine solche Herzens-Religion ist mir in den vergangenen Jahren aufgegangen, wichtig und vertraut geworden. Auf eine laute oder sogar brutale Umsturz-Religion baue ich heute nicht mehr. Im Gegenteil. Sie macht mir Angst. Ihr fehlt es an Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Liebe und Tiefe.

Und wenn ich heute immer noch oft und gerne das Magnifikat bete, dann höre und verstehe ich diesen Lobgesang Mariens nicht mehr umstürzlerisch, sondern vertrauend und prophetisch. Was steht nun in diesem wunderbaren Gebet und was habe ich früher vielleicht hineingelesen?

  • Denn der Mächtige hat Grosses getan – nicht ich, Adrian, und nicht ein anderer Mensch hat hier grossartig gehandelt. Gott selbst wirkt und verändert Menschen und Lebens-Situationen! Und zwar:
  • Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind – ebenso junge Kapuziner, die die Welt auf den Kopf stellen möchten. Die die Bösen vielleicht sogar leiden sehen möchten. Doch, Gott wirkt anders, diskreter, schöpferischer, lebensbejahender.
  • Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Früher dachte ich jeweils, dass anschliessend die Mächtigen unten sind und die Niedrigen oben. Doch steht das nirgends. Heute stelle ich mir vor, dass es da nicht um Bestrafung geht, sondern alle werde als Kinder Gottes auf dieselbe Stufe gestellt. Als Geschwister loben wir gemeinsam Gott und seine Schöpfung. Dafür müssen die einen heruntersteigen und die anderen hinaufsteigen. Dann stehen wir auf derselben Stufe.
  • Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Auch hier stelle ich mir heute nicht mehr eine Umkehrung der Verhältnisse vor, sondern einen Ausgleich. Hungernde und Reiche sollen Nahrung haben und leben können. Dazu brauchen die Hungernden Gaben, die Reichen haben diese ja schon. Das Getreide ist für alle da. Alle dürfen satt werden. Fair verteilt. Dann gibt es keine Hungernden mehr. Ein friedlicher und fairer Ausgleich der Güter also.

Und genau solche Bewegungen feiern wir an Mariä Himmelfahrt. Hier handelt Gott und wir gedenken, wie Gott Maria bei sich aufgenommen hat. Wir werden eines Tages die nächsten sein, die von Gott aufgenommen werden. Im Moment heisst das Taten der Gerechtigkeit tun. Das Leben allen Menschen, der ganzen Schöpfung fair ermöglichen. So kann ich mich eines Tages ihrer, wie auch meiner eigenen Himmelfahrt freuen. Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig. Das werden wir eines Tages gemeinsam mit Maria und Jesus von Nazareth singen. Denn der Mächtige hat Grosses an uns getan und sein Name ist heilig. Amen.

Hinabsteigen und sehen, wissen

Predigt vom 24.07.2022, Gen 18,20-32; Lk 11,1-3

Liebe Mitfeiernde

«Wie sage ich es meinem Kinde?» Ist eine didaktisch wichtige Frage für Eltern und Erziehungspersonen. Für Gott stellt sich diese Frage auch immer wieder neu: «Wie sage ich es meinem Menschen?» Oder hier: «Wie sage ich es dem Abraham?»

Die Lehr-Situation im Buch Genesis stelle ich mir folgendermassen vor. Der gastfreundliche Abraham und seine Frau bewirten drei fremde Männer – und wir alle – auch Abraham – wissen, dass die drei Gott sind. Mag sein, dass Abraham über die Städter in Sodom und Gomorra geklagt hat und sie weghaben möchte. Ähnlich geht es mir heute mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Er geht mir auf die Nerven und ich mag nichts mehr davon hören. Da soll doch bitte einmal einer durchgreifen und für Ordnung sorgen! Da weder mächtige Politiker:Innen noch Religionsvertreter:Innen etwas zu bewirken scheinen, soll doch Gott mal selber hingehen und durchgreifen. Oder etwa nicht?

Im Buch Genesis sagt Gott zu Abraham, dass er sich die beiden Städte mal genauer ansehen will und die drei Männer brechen nach Sodom auf. Doch jetzt geht Abraham in sich und auch wir wissen heute, dass einige Atombomben über Russland und der Ukraine die Probleme nicht wirklich lösen. Zur Problemlösung gibt es keinen roten Knopf! Abraham realisiert, dass es auch in Sodom und Gomorra gute und gerechte Menschen gibt. Und vielleicht ist er und auch wir nicht ganz lupenrein. Im Tagesevangelium lehrt uns Jesus jedenfalls auch entsprechend zu beten: «Und erlass und unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist» (Lk 11,4).

Abraham beginnt mit Gott zu verhandeln und ist mächtig stolz auf sich: «Siehe, ich habe es unternommen, mit meinem Gott zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin» (Gen 18,27). Und Abraham nimmt allen Mut zusammen und handelt bis zu zehn Gerechten herunter. Nun, ich habe nicht den Eindruck, dass wir Menschen Gott herunterhandeln müssen, eher dass wir Menschen ab und zu unseren eigenen Zorn und Eckel, aber auch unsere Ängste und Befürchtungen etwas beruhigen müssen. Interessanterweise spricht Gott im Buch Genesis nichts von Zerstörung und Richten. Sondern: «Ich will hinabsteigen und sehen, … Ich will es wissen» (Gen 18,21). Abraham hat seine Lektion gelernt. Es gibt auch in Sodom und Gomorra gerechte Menschen, wie es diese auch in der Ukraine wie auch in Russland gibt – wenn auch ich diesen Krieg als Sünde wahrnehme und im Moment keine Lösungen für Gerechtigkeit und Frieden wüsste.

Hinsehen und Wissen nehme ich aus der wunderbaren Erzählung im Buch Genesis für heute mit. Jesus von Nazareth ergänzt im Lukas-Evangelium noch mit gemeinsam Beten, selbstkritisch sein, vergeben und sich gegenseitig unterstützen – dem Freund auch um Mitternacht Brot geben – sowie um den Heiligen Geist zu bitten.

Ich weiss, den Fisch hätte ich lieber in den Händen als nur versprochen. Und trotzdem tut es immer wieder gut, biblische Sätze zu verkosten, zu lernen, zu meditieren und manchmal zu erleben, dass sie sich auch erfüllen!

«Darum sage ich euch: Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird geöffnet» (Lk 11,9-10).

Neun Monate nachdem die drei Männer den betagten Abraham verlassen hatten, bekam Sarah ihr erstes Kind und es entstand – so jedenfalls die Bibel – ein grosses und fruchtbares Volk. Das scheinbar unfruchtbare Ehepaar wird zu dessen Stammeltern. Was in der Begegnung noch Verheissung war, wurde zur Realität. Jesus verheisst im heutigen Tagesevangelium: «der Vater im Himmel wird den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten» (Lk 11;13). Um den Heiligen Geist bitte ich in diesen Tagen besonders gerne.

Hinsehen und Wissen, gemeinsam Beten, Selbstkritisch sein, vergeben und sich gegenseitig unterstützen sowie um den Heiligen Geist zu bitten – das sind die sieben Punkte, die mich, die uns in den kommenden Tagen begleiten können. Und vergessen sie das Bitten, Suchen und Anklopfen nicht. Da ist Gott und der Heilige Geist in allen Dingen. Vielleicht hilft das leichter und gelassener in schwierigen und herausfordernden Zeiten zu leben, ohne die Augen zu schliessen. Amen.

Drei Eins machen Eins

Predigt zum Dreifaltigkeitssonntag, 12. Juni 2022, Spr 8,22-31; Joh 6,12-15

Liebe Christen, liebe Christinnen,

ein Gebet beginnen wir oft mit «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes». Psalmen und andere Gebete beenden wir manchmal mit dem «Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist». Im liturgischen Grundsatz heisst es: «So, wie die Kirche betet, so glaubt sie». Wir glauben also die Trinität. Manchmal beten wir auch Dinge, die wir nicht verstehen oder vielleicht gar nicht wirklich verstehen können. Mir geht es oft so mit der Trinität – und heute am Dreifaltigkeitssonntag ist es wohl wieder einmal an der Zeit, sich über unseren Dreifaltigkeits-Glauben Rechenschaft zu geben.

Und diese Rechenschaft wird in den letzten Jahren wieder vermehrt von uns gefordert. Vor allem muslimische Freunde und Freundinnen fragen nach: «Glaubt ihr nun an einen oder an drei Götter?» Wir glauben an den einen Gott, das ist schnell gesagt. Und jüdische Freunde und Freundinnen weisen uns darauf hin, dass es in der hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, gar keine Lehre der Dreifaltigkeit gäbe – und damit haben sie auch recht.

Aus dem Buch der Sprüche haben wir in der Lesung die Weisheit Gottes sprechen hören: «Gott hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit». Die Weisheit Gottes gab es also schon vor der Schöpfung der Welt. Und später kommen meine beiden Lieblingssätze dieser Perikope: «Ich war als geliebtes Kind bei Gott. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit». Welch ein Bild. Wie ist es zu verstehen?

Im heutigen Tagesevangelium nach Johannes sagt Jesus: «Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, er wird euch in der ganzen Wahrheit leiten». Jesus selber hat noch nicht alles gesagt. Und in diesem Bibeltext heisst es auch: Alles, was mein Vater hat, ist mein;». Jesus, Geist und Vater kommen also im Johannesevangelium vor. Und trotzdem, für uns Christen und Christinnen ist es wichtig, dass wir an den einen Gott glauben. Und gerne zitieren wir dazu aus dem Buch Deuteronomium: «Höre Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig». Und an diesem Bekenntnis kommen wir nicht vorbei und wir halten es auch hoch. Es gilt nicht nur den Juden und Jüdinnen. Und wenn wir Christen und Christinnen über die Trinität sprechen, dann stellen wir damit unseren Ein-Gott-Glauben nicht in Frage.

Ich möchte mich hier nicht in die Trinitätstheologie vertiefen. Es gibt für mich einige praktische Gründe dafür, dass wir Gebete oft mit «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes» beginnen oder mit «Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist» beenden. Vier Punkte fallen mir ein:

  1. Gott bleibt uns Geheimnis: Nein, Gott lässt sich nicht auf den Punkt bringen – auch wenn wir Menschen es oft versuchen. Er ist nicht zählbar, wie es Menschen gerne hätten. Er passt nicht in unsere Ordnung der Zahlen. Er ist weder Mensch noch Mann noch Frau, eben Gott. Er bleibt das geheimnisvolle DU. Er ist anders als anders. Eins und drei – und trotzdem einzig.
  2. Gott ist nicht einsam, aber Begegnung in sich selber: Vor uns steht kein einsamer Gott, wie ich ein einsamer Mensch sein kann. Der EINE ist Leben und Gemeinschaft in sich selber. Mir gefällt das Bild der überschäumenden Liebe. In Gott lebt so viel Liebe, dass er diese Liebe auch nach aussen tragen will, kann; auch zu uns Menschen.
  3. Gott begegnet uns in der Weltgeschichte im Menschen Jesus von Nazareth: Er ist zwar in Jesus in unsere Welt und Geschichte eingetreten, aber er geht darin nicht auf; als Jesus Christus ist und bleibt er Gott – was das auch immer heissen mag. Und auch Jesus Christus ist mir ein Geheimnis. Da gibt es Menschliches, was ich erahnen, teilweise verstehen kann. Doch bleibt mir sein Gott-Sein fremd. Vielleicht ist ja schon «Gott-Sein» ein falscher Ausdruck.
  4. Gott ist immer bei uns, in unserer aller Herzen: «Es war meine Freude bei den Menschen zu sein». Diesen biblischen Satz muss ich wiederholen: «Es war meine Freude bei den Menschen zu sein». Schön ist Gottes Weisheit gerne bei, mit und in uns! Das tut so gut, gibt Hoffnung und Vertrauen. Aber eine konkrete Vorstellung dazu habe ich keine.

Für die Vorstellung «Gott ist mit Freude bei uns» habe ich im Hinduismus eine wunderbare Erzählung gefunden, die ich mit euch teilen, geniessen möchte. Der hinduistische Gott Krishna sehen wir auf Bildern oft Flöte spielend dargestellt Eine Erzählung dazu geht in meinen Worten so: Krishna erscheint auf der Erde als Hirt verkleidet und beginnt freudig einmalige Melodien zu spielen. Die Hirtinnen hören die himmlischen Klänge und lassen ihre Kühe sowie ihre Männer unbedient stehen, legen die Arbeit nieder und folgen dem Flötenspiel und beginnen im Takt der Flöte zu tanzen. Als viele Hirtinnen um Krishna herumtanzen, gibt es zu wenig Platz zum Tanzen und unter den Hirtinnen Streit, wer am nächsten bei Krishna sein dürfe. Diesen Streit will der göttliche Flötenspieler vermeiden; er möchte den Menschen Freude bringen. Krishna zieht sich zurück und kommt seither in ganz vielen Flöte spielenden Hirtengestalten auf die Erde und spielt jeder Hirtin ihr persönliches Lied. Er spielt allen. Und trotzdem bleibt Krishna einer. Gott kann das! Ach ja, liebe Männer, wir bleiben von diesem Tanz nicht ausgeschlossen. In Indien tragen an diesem Krishna-Gedenktag die Männer Frauenkleider und kommen so auch zum Tanz, zur Gottesbegegnung mit Krishna. Halt etwas anders als erwartet! Aber immerhin!

Zum Schluss noch einmal meine praktischen Argumente für die Dreifaltigkeit, die Dreieinigkeit, die Trinität:
Gott ist und bleibt uns Geheimnis
Gott ist nicht zählbar, nicht quantifizierbar im menschlichen Sinn
Gott ist nicht einsam, aber Begegnung in sich selber
Gott ist in sich überströmende Liebe
Gott begegnet uns in der Weltgeschichte im Menschen Jesus von Nazareth, aber …
Gott ist immer bei uns, in unserer aller Herzen
– auch heute, bei ihnen und bei mir. Und er bleibt trotzdem einer. Amen.

Niemals – niemand – niemand

Predigt vom 8. Mai zu Offb- 7,9.14b-17 und Joh 10,27-30

Liebe Mitfeiernde am Tisch des Wortes Gottes

Ich kann mich noch gut an die 80iger Jahre erinnern. Da war meine Angst vor einem Atomkrieg auch schon präsent. Filme handelten vom Tag danach und Menschen gingen auf die Strasse. Relativ lange waren diese Atombomben in den letzten Jahren fast vergessen, zumindest nicht mehr bedrohlich. Nun ist die Angst wieder zurück. Ein nukleares Kriegs-Szenario weckt in mir Aggressionen und es entstehen innerlich Gottesbilder von einem Gott, der Ordnung schafft und eingreift. Da kann Gott doch nicht nur zusehen; ER, der Allmächtige, der Schöpfer von Himmel und Erde; ER, der Schöpfer von Menschen.

Vor einigen Tagen hat mich bei meiner morgendlichen Meditation folgender Text von Andreas Knapp (in: Tiefer als das Meer, Gedichte zum Glauben, Regensburg, Echter 2018) sehr angesprochen und zum Nachdenken angeregt:

der Herr

wer den Thron deines Herzens besetzt
zu dem du aufschaust
den du anhimmelst
der dich beherrschen darf
den machst du zu deinem Herrn

ER steigt vom Thron des Himmels herab
begegnet dir auf Augenhöhe
kniet sich nieder auf die Erde
und wäscht dir die Füsse
so herrlich will die Liebe sein

Stimmt. Wen mache ich heute zu meinem Herrn? Die Angst vor einem Atomkrieg, einem Weltkrieg. Mächtige Menschen, die über Armeen und Waffen verfügen, Geld und Einfluss haben. Nein. Solche Menschen sollen und dürfen nicht meine selbstgemachten Herren sein. Darauf kann ich verzichten und von ihnen will ich mich nicht provozieren und bestimmen lassen. Sie haben kein Recht auf meine Angst oder sogar meine Ehrfurcht. Weg damit! Diese Herren sollen nicht mein Herz besetzen. Zu solchen Mächtigen will ich nicht aufschauen oder sie sogar anbeten. Waffen, Atombomben dürfen meine Vorstellungskraft nicht beherrschen mich innerlich aggressiv werden lassen; und ihre Besitzer sind nicht meine Herrn.

Und wie ist nun unser Vater im Himmel wirklich, ER, der uns alle zu Geschwistern macht? In der Lesung und im Tagesevangelium finden sich wunderbare Motive, Themen und Bilder für einen liebenden, aufmerksamen und barmherzigen, mütterlichen Gott. Diese biblischen Bilder zeugen vom Vertrauen auf eine Gottes-Beziehung, die alles und alle Zeiten überdauert.

Das heutige Tages-Evangelium versichert mir, dass Gott mich kennt und ich von ihm ewiges Leben erhalten habe. Ich werde niemals zugrunde gehen und niemand kann mich Gottes Hand entreissen. Auch keine Atom-Bomben. Welch eine Verheissung in die heutige Kriegs-Angst-Situation hinein. Und weil ich Trost wirklich nötig habe, wiederholt und betont das Johannes-Evangelium drei Mal: niemals, niemand, niemand.
Sie werden niemals zugrunde gehen
niemand wird sie meiner Hand entreissen
niemand kann sie der Hand meines Vaters entreissen.

Welch eine Botschaft an uns! Das ist ihnen, mir, uns allen zugesagt. Können wir diese Worte annehmen und glauben? Das stete Wiederholen und Betonen in diesem kurzen Text zeigt, dass Menschen immer wieder neu auf diese Verheissung hingewiesen werden müssen. Wir sind von Jesu Hand und von des Vaters Hand gehalten und niemals wird das anders sein. Gegeben ist uns ewiges Leben, sagt das heutige Tages-Evangelium kurz und klar.

Mag sein, dass die Lebens-Vision im heutigen Tages-Evangelium in glücklichen Tagen reicht. Doch in Tagen der Krise, des Leidens, des Krieges braucht es vielleicht mehr. Davon zeugt die Lesung aus der Offenbarung des Johannes, welche für schwierige Zeiten geschrieben ist. «Sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden und weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf ihnen lasten», ist da zu lesen. Die Offenbarung macht klar, dass es eine schwierige Gegenwart gibt, geben kann. Doch sind Hunger und Durst, Leiden und Ängste keine Zustände für die Ewigkeit. Sie werden von Gott überwunden. Aber nicht von einem gewalttätigen Herrn, nicht von einem selbstgemachten Gottesbild.

Johannes sieht eine grosse Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen zusammenkommen; niemand kann sie zählen (also auch UkraninerInnen, Russen/Russinnen, SchweizerInnen, AmerikanerInnen, Chinesen/Chinesinnen etc.). Und dann sein grossartiges, feines und friedliches Schluss-Bild:
«Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.» So schön. Gott wird alle Tränen von unseren Augen abwischen.

Jesus als das Lamm, welch ein Kontrast zu den kriegerischen Bildern und Texten von heute. Und dieses Lamm weidet und tränkt uns Menschen. Geschenkt wird uns das Leben und nicht der Tod. Gott macht mir Mut und wischt meine Tränen, meine Angst ab. Einen solchen Glauben, ein solches Vertrauen, inneres Wissen, wünsche ich Ihnen, mir, in diesen mühsamen und schwierigen Tagen ganz speziell.

Liebe Mitfeiernde am Tisch des Wortes Gottes

Zum Glück muss ich nicht selbstgebastelten Gottesbilder vertrauen, die aus meiner Angst und Aggression geboren sind. Zum Glück zeigen mir die Bibel, die heutigen Sonntagstexte, einen tröstenden und lebensspendenden Gott, der mich auch schwierige Zeiten in Vertrauen leben lässt. Amen.

…, das einem Menschen entspricht

Predigt vom 24.04.2022 zum 40jährigen Priesterjubiläum von Hans Portmann, Evangelium: Johannes 20,13-31

Lieber Festtagsjubilar Hans
Liebe Schwestern und Brüder
In der Osterzeit werden uns aus den Evangelien einige Begegnungen des Auferstandenen mit Menschen erzählt. Frauen und Männer machen die Erfahrung, dass Jesus lebt, freuen sich darüber, finden Trost und Heilung.

Menschen, vielleicht vor allem Theologen und Theologinnen versuchen das zu verstehen und eine Vorstellung von den Auferstehungs-Erfahrungen zu finden. Lange habe ich das versucht und ich bin auf keinen grünen Zweig gekommen. Die einen – wie das heutige Tagesevangelium erzählt – erkennen den Auferstandenen an seinen Wunden, andere am Brotbrechen, andere am Wort und so fort. Manchmal erscheint der Auferstandene leiblich, manchmal nicht, manchmal kann man ihn berühren, manchmal läuft er durch Türen und Wände. Manchmal erkennt man ihn bloss an Symbolen wie Wunden oder gebrochenem Brot. Gerne hätte ich jedenfalls ein Bild, ein Verständnis für die Auferstehung, für den Auferstandenen gehabt. Der Verstand will verstehen.

Ich fand ein Bild in der Kunst für den Übergang vom irdischen zum auferstandenen Leben. Auf alten Krippendarstellungen ist manchmal ein Schmetterling dargestellt. Die Vorstellung ist folgende: Im Leben sind wir wie gefrässige und manchmal unruhige Raupen, dann vor der Schlüpfen, Kokonphase, geschieht Ver-Wandlung und es kämpft sich ein Schmetterling aus dem Kokon hervor. Es ist dies ein wunderbares Bild, ergreifend beim Zusehen. Ich hatte einmal zum Meditieren eine solche Raupenzucht im Zimmer. Vor dem Verpuppen rannten die Raupen nächtelang, dann das Warten, plötzlich knackte es und langsam befreite sich ein wunderbarer Schmetterling aus dem Kokon heraus, entfaltete sich und flog nach einer Weile davon. Ich staunte ab der Wandlung.

Wie ist mit den Widersprüchen in den Auferstehungs-Erzählungen umzugeben? Mein Mitbruder Norbert Seibert in Schwyz, ein halbes Jahr lang Mitnovize von mir, würde meinen: Typisch Adrian, der kann es nicht Seinlassen, immer seine Fragerei. Ja, das war im Noviziat nicht anders! Stimmt, und manchmal finde ich auch Antworten, die vielleicht nicht für die Ewigkeit geschaffen sind, aber fürs irdische Leben. Das Bild «Raupe-Schmetterling» war mir vor Jahren sehr wichtig, in den letzten Wochen sind mir zwei andere Gedanken sehr wichtig geworden, die ich euch hier gerne vorstelle:

  1. Gott kann sich in das Gewand kleiden, das einem Menschen entspricht.
  2. Gott ist noch anders als anders

Meine 1. Entdeckung:
Gott kann sich in das Gewand kleiden, das einem Menschen entspricht

Viele von Ihnen haben wohl schon sterbende Menschen begleitet. Manchmal kommt es vor, dass diese Menschen spezielle Träume oder aber auch Wach-Visionen haben. Wie ist damit umzugehen? Sind Träume nur Schäume? Darum habe ich von Simon Peng-Keller das Buch «Sinnereignisse in Todesnähe» gelesen. Er bringt viele Beispiele von Träumen und Visionen und versucht diese einzuordnen und zu deuten. Heute gibt es einen richtigen Hype zu Nahtod-Erfahrungen und dessen Deutungen. Selbst das Schweizer Fernsehen bringt immer wieder entsprechende Sendungen. Bei Simon fand ich die folgenden wunderbaren Sätze: «Dass visionäres Erleben inspiriert sein kann, gehört bis heute zu den Grundüberzeugungen gelebter Religion. Visionäres Erleben und sein Ausdruck sind ‘the stuff of inspiration’. Oder poetischer formuliert: Gott kann sich in das Gewand kleiden, das ihm die menschliche Imaginationskraft näht.»

Diese Formulierung gefällt mir sehr und macht auch Sinn. Der Auferstandene kann den Jüngern mit den Wunden erscheinen oder auch im Brechen des Brotes oder wie es einem Menschen entspricht. Durch die Gabe des Heiligen Geistes kann daraus eine Gottesbegegnung, eine Gotteserfahrung entstehen. Und so sagt der Auferstandene im heutigen Tagesevangelium auch: Empfangt den Heiligen Geist. Gott passt sich dem Menschen und seinen Vorstellungen an. Er macht sich mir, uns verständlich, ja, er kann uns begegnen! Und dazu muss Gott sich nicht in irgendwelche menschliche Konstrukte oder Vorstellungen zwängen. Er ist frei, begegnungsoffen. Nicht ich muss verstehen, sondern Gott zeigt sich mir, dir, uns, so, wie es uns entspricht.

Meine 2. Entdeckung: Gott ist noch anders als anders

Beim Dichter Andreas Knapp fand ich ein sinniges Gedicht mit dem Titel «Weisheit»: «die dinge sind, wie sie sind; wir menschen, sind erst im werden; und gott, noch anders als anders». Ja, oft ist es schnell gesagt, dass Gott anders ist, aber er soll trotzdem in unsere Kategorien hineinpassen. Und so habe ich versucht, Auferstehung und Auferstehungserfahrungen in eine menschliche Logik hineinzuzwingen, auch wenn ich ihm scheinbar sein Anders-Sein belassen habe. Wenn nicht so, dann halt so, eben anders. Materiell oder geistig; spürbar oder sehbar; visuell erkennbar oder eben nicht, leiblich oder eben körperlich, usw. Doch: Gott ist noch anders als anders. Nicht nur das andere, das zweite meiner Vorstellung. Sondern eben auch anders als meine Vorstellung vom Anders-Sein.

Und der Menschen-Vers des Gedichtes von Andreas Knapp stimmt auch, völlig: wir Menschen sind erst im Werden. Immer am Wachsen und staunen. Auch in unseren Gottes-Vorstellungen und in unserer Gottes-Beziehung, im Werden. Mit Gewinn verkoste ich das Gedicht von Andreas Knapp immer wieder neu: «die dinge sind, wie sie sind; wir menschen, sind erst im werden; und gott, noch anders als anders». Ach ja, die Dinge sind, wie sie sind. Das vergesse ich auch gerne. Nicht wie ich sie möchte!

Lieber Hans

Vierzig Jahre Priester, vierzig Jahre Sakramente feiern. Oft erfahre ich das Brotbrechen als irdisches Brotbrechen, ohne tiefere Begeisterung. Ich weiss zwar, dass … und ich kenne einige theologische Theorien zu Sakramenten und zum Brotbrechen. Dann fehlt mir der Heilige Geist und ich lebe aus der Erinnerung. Doch selten, aber immerhin, durfte ich auch schon geistbegabt zur Kommunion schreiten, und so den Auferstandenen erahnen, erspüren. Danke dir für dein Brotbrechen und deinen Dienst, in deiner Art und mit deiner dir eigenen Begeisterung. Amen.

Adrian Müller, www.adrianm.ch

Aufbrechen und besser machen

Predigt vom 3.04.2022 zu Joh 8,1-11: Liebe Mitfeiernde

In der Schule, im Leben heisst es stets, Störungen gehen vor. Auch Jesus kannte diesen Grundsatz. Jesus predigt dem Volk als die Schriftgelehrten und Pharisäer ihn stören und seine Rede unterbrechen. Übrigens keine echte, offene Frage, die sie stellen. Die Antwort meinen sie schon zu wissen. Es geht um eine Scheinfrage, eine Fangfrage, um Jesus anklagen zu können.

Für mich gibt es vier Perspektiven auf das heutige Evangelium, so auch vier Verhaltensweisen, die wir wohl aus unserem Leben kennen. Ein Handeln wie das Volk, wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, wie die Frau, wie Jesus.

Das Volk kommt zu Jesus und geht dann wieder fort. Es ist und bleibt passiv und beobachtend, vermeintlich unschuldig. Vielleicht auch etwas sensationslüstern? Der Text lässt das offen. Niemand verteidigt die Frau oder Jesus und seine Lehre. Niemand wirft einen Stein. Nach der stillen Intervention von Jesus fühlt man sich sündig, betroffen und geht still. Doch wartet niemand auf das Ende der Begegnung oder auf weitere Worte von Jesus. Ja, auch in unserem Alltag reihen sich viele Situationen und Erfahrungen aneinander. News und ihre Themen kommen und gehen. Halbwissen prägen oft unsere Gespräche und Medien. Haben und nehmen wir uns Zeit, Geschichten zu Ende zu hören und zu verfolgen? Was ist eigentlich Sache?

Die Schriftgelehrten und Pharisäer stören die anderen. Sie kommen sich schlau vor, sie kennen das Gesetz und Mose und sind unehrlich. Sie wissen ihre Antwort schon. Schriftgelehrte und Pharisäer wollen handeln nach der Tradition, ohne Nachdenken oder genaues Hinsehen auf die heutige Situation, ohne Liebe oder Selbsterkenntnis. Was wäre eigentlich Sache? Wo bleibt der Mann, der beim Ehebruch beteiligt war? Profilierungssucht gibt es überall. Doch ist ihre Grundlage nicht Weisheit und Barmherzigkeit. Schriftgelehrte und Pharisäer sind laut und brutal. Je mehr Gebrüll, desto weniger Argumente – so erleben wir es in Politik und im Alltag manchmal auch. Vereinfachend. Schwarz und weiss sehend. Sie hätten vielleicht besser Jesus zuerst einmal aufmerksam zugehört, sich Zeit genommen, bevor sie ihren Aufstand starteten und so Unordnung schaffen. Sind das die wahren Ordnungshüter?

Interessanterweise bleibt die Frau schweigsam. Sie kommt mir vor, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Sie wehrt sich nicht gegen die Anschuldigungen, frägt nicht nach dem beteiligten Mann. Eine kurze Antwort am Schluss an Jesus: «Keiner, Herr». Die Geschichte endet abrupt. Hat die Frau vielleicht noch danke gesagt für das gerettete Leben? Vielleicht noch erzählt aus ihrem Leben? Oder einfach Schwamm drüber und weiter …

Betrachten wir die Erzählung mit dem Erleben von Jesus. Nach dem persönlichen Gebet am Ölberg begibt er sich in den Tempel und lehrt. Dazu setzt er sich, ein Zeichen von Zeit haben und Zeit nehmen, da sein. Und bald wird er unterbrochen und herausgefordert. Nein, er beginnt nicht sofort zu reagieren, zu argumentieren. Er verteidigt weder die Frau noch sich. Er schreibt auf die Erde und niemand schaut und überliefert uns, was er geschrieben hat. Jesus lässt sich Zeit und überlegt, wägt ab. In Konfliktsituation braucht es oft Zeit und Raum. Ich mache gute Erfahrungen mit überschlafen und reifen lassen. Im Aufbrausen liegen die guten Antworten nicht.

«Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie». Die Frage der Sünde steht für Jesus und seine Umgebung ausser Frage. Da wird keine Verteidigung oder Rechtfertigung aufgebaut. Auch Jesus wirft keinen Stein. Im Gegenteil: «Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!» Aufbrechen und besser machen ist die Einladung an die Frau wie an uns alle. Umkehr und Ausrichtung auf das Gute, auf Gott – so die Einladung. Das wünsche ich uns in den kommenden Tagen, aufbrechen und – wenn nötig – besser machen. Dazu sind wir befreit. Jetzt in der Fastenzeit erst recht.

Thesenartig zusammengefasst würde ich meinen:

  • Störungen gehen vor und werden ernst genommen.
  • Auf falsche, hinterhältige Fragen gibt es gereifte Antworten.
  • Unrecht wird wahrgenommen und angesprochen.
  • Ideen, Lehren, Traditionen werden an der Realität gemessen.
  • Beim Thema Sünde, Schuld braucht es den Blick auf unser eigenes Tun.
  • Trotz Sünde, Schuld im eigenen Leben lädt Gott uns ein weiterzugehen und es besser zu machen. Wir werden zum guten Leben befreit.
  • Und auch sind wir eingeladen, barmherzig und rücksichtsvoll wie Gott unsere Mitmenschen zu behandeln und zu verteidigen. Amen.

Töchter und Söhne Gottes

Predigt zu Phil 3,17-4,1 und Lk 9,28b-36
Der Soziologe Armin Nassehi beschreibt in seinem Buch «Unbehagen» eine überforderte Gesellschaft. Seine Studierenden stellen sich die Frage, warum wir, obwohl wir so viele Möglichkeiten und Wissen hätten, unsere Probleme der Welt und des Lebens nicht lösten. Wir kennen viele Zusammenhänge über die Klima-Erwärmung und trotzdem erreichen wir wenig. Als Soziologen lernen seine Studierenden vieles über gesellschaftliche Zusammenhänge, und sehen die Gesellschaften stolpern immer wieder. Im jetzigen Moment steht uns die Ukraine sehr nahe. Wir möchten in Frieden leben, und wir erleben Krieg und erhöhen die Verteidigungsausgaben, kürzen im Gegenzug Sozialausgaben. Papst Franziskus sagt meines Erachtens zu Recht, dass es in einem Krieg immer nur Verlierer und keine Gewinner gäbe. Hört endlich auf!

Sigmund Freud hat 1930 eine Schrift herausgegeben mit dem Titel «Das Unbehagen in der Kultur». Etwas salopp kann man seine These folgender-massen zusammenfassen. Der Mensch braucht Feinde, um seinen Aggressionstrieb zu leben. Je grösser die Gruppe wird, desto schwieriger ist es, den Aggressionstrieb direkt auszuleben – denn die Feinde verschwinden in der Ferne. Sozialer Zusammenhalt muss nach Freud mit Abgrenzung von anderen erkauft werden. Keine Liebe ohne Hass also. Steter Kampf.

Brauchen wir Christen und Christinnen auch Abgrenzung? Wohl bis zum zweiten Vatikanischen Konzil kannten wir Katholiken auch eine echte Abgrenzung zur Gesellschaft. «Ausserhalb der Kirche kein Heil», war ein Schlagwort der Abgrenzung. Die Juden waren oft die Anti-Christen, später oft die Muslime. Katholiken und Katholikinnen lebten in der Schweiz in einem katholischen Milieu, das sich klar vom reformierten und liberalen Milieu isolierte: Katholische Vereine, katholische Laden, katholische Schulen, usw.

Auch der als Lesung gehörte Philipperbrief grenzt klar ein und klar aus. Da gibt es die Feinde des Kreuzes Christi. Ihr Ende sei Verderben, ihr Gott der Bauch und ihre Ehre bestände in der Schande; Irdisches haben sie im Sinn. Die Anhänger und Anhängerinnen des Paulus aber, hätten ihre Heimat im Himmel und ihr armseliger Leib würde eines Tages in einen verherrlichten Leib gewandelt. Haben Paulus und Sigmund Freud recht? Ohne Feinde kein menschliches Leben auf Erden? Liebe nur für die Eigenen?

Ganz real sind die Konflikte, die wir tagtäglich erleben. Teilweise, wie beispiels-weise Kriege, sind sie eindeutig menschgemacht. Klimawandel hat gewiss mit unserem Handeln zu tun. Im Moment würde ich mal vermuten, dass Corona nicht vom Menschen gemacht ist – Gewissheit habe ich da nicht. Doch gibt es Naturkatastrophen, die meines Erachtens wenig bis nichts mit uns Menschen zu tun haben. Die Natur kann brutal sein.

Im heutigen Tagesevangelium hören wir, wie Jesus mit Petrus, Johannes und Jakobus beten geht. Interessanterweise schlafen die drei Freunde während Jesus mit Mose und Elija redet. Es hätte mich ja interessiert, was Mose und Elija über das Ende Jesu in Jerusalem Jesus gesagt haben. Später, am Ölberg wird es wieder so sein, die drei Jünger schlafen, während Jesus mit Gott um sein Leben ringt: «Abba, Vater, alles ist dir möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht, was ich will, sondern was du willst!» (Mk 14,36) Gott will den Kelch?!

Selbst am Ölberg hat Jesus um sein Leben gerungen. In solchen Situationen schlafen Jesu die engsten Freunde selig. Im heutigen Tagesevangelium finde ich es bezeichnend, dass Petrus – sobald er wieder wach ist und das für Jesus wohl ernüchternde Gespräch abgeschlossen ist – Hütten bauen will. Ja, wir möchten doch alle, auch als Kirche, Sicherheiten und Gewissheiten. Am liebsten ein fröhliches Fest, Gesang und Tanz, Freude und Lobpreis. Doch trotz einem liebenden, barmherzigen und allmächtigen Gott ist die Welt auch anders.

Liebe Töchter und Söhne Gottes, trotz Sigmund Freund und trotz Paulus glaube ich nicht, dass wir zum Leben Feinde brauchen und nur auserwählte Menschen gewandelt werden. Ich glaube ans Ja Gottes zu allen Menschen, alle sind wir seine Töchter und Söhne. Drei Punkte sind mir wichtig:

  • Die Natur ist Natur und als Menschen müssen und können wir lernen mit ihr zu leben, uns anzupassen, dass sowohl die Natur als auch wir Menschen Zukunft haben. Dabei wird die Natur unser Leben überleben, wenn wir es als Menschheit nicht schaffen. Nicht nur die Dinosaurier sind auf der Strecke geblieben. Sie können uns zu denken geben.
  • Ob wir Menschen hier auf Erden zum friedlichen Zusammenleben finden, das weiss ich nicht, das hoffe ich jedoch sehr und ich beginne jeden Tag neu damit, am Frieden zu bauen. Das Unbehagen an einer überforderten Gesellschaft teile ich; ja, im Angesicht vom Krieg in der Ukraine, von der aktuellen Hungersnot am Horn von Afrika, in Madagaskar, von wo einer meiner Schwager stammt, auch die Überschwemmungen in Australien usw. belasten mich sehr.
  • Wie können wir Christen und Christinnen an einen guten, barmherzigen, liebenden und allmächtigen Gott glauben, wenn wir die Härte der Natur und die Überforderung der Menschen sehen? Zu dieser Frage gibt es viele Bücher, ja Bibliotheken; doch meines Erachtens keine wirklich überzeugenden Antworten. Jesus zeigt uns im Evangelium, dass er zu Gottes Willen ja sagt, auch wenn es um eine für ihn düstere Zukunft geht. Als Verlierer und vom Tod Bedrohter weiss und hört er: «Dieser ist mein auserwählter Sohn». Zu uns wird gesagt: «auf ihn sollt ihr hören». Jesu Begegnung mit Mose und Elija sowie Gottes Ja lässt ihn und uns hoffen. Und auch wir dürfen uns sagen lassen, dass wir Töchter und Söhne Gottes sind. Amen.

Wirklich frohe Botschaft?

Liebe Geschwister in Christus (Pedigt vom 13.02.2022)

Unser Wissen um die Zeit und Entwicklungsprozesse wächst und erweitert sich. Wir sind auf dem Weg und vieles ist offen. Letzthin war ich bei einem Patenkind zu Besuch. Er hat im Chemie-Unterricht nicht mehr nur ein Buch, wie ich damals, sondern auch Computer-Programme fürs Lernen. Und diese können Theorien veranschaulichen. Zum Beispiel: Wasser ist eine chemische Verbindung aus Sauerstoff und Wasserstoff, H2O. Zu meiner Schulzeit hiess es, das Wassermolekül besteht aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom. Ich stellte mir vor, man wirft die Atome zueinander und sofort hat man Wasser. Bei der Animation auf dem Computer lernte ich, dass chemische Prozesse Zeit brauchen. Die verschiedenen Atome müssen sich finden und dann auch binden. Auf dem Bildschirm sahen wir die Atome in einem Aquarium herumschwirren und ab und zu, zack, da gab es eine Verbindung. Ich staunte und bin dankbar für dieses neue Verständnis von chemischen Prozessen. Auch da braucht es Zeit.

Oft ist es uns klar, dass Reifung Zeit braucht. Keine Frage, beim Wein muss man einige Jahre warten, bis er seinen Jahrgang hat. Bei einigen Prozessen kann man kaum warten, bis es soweit ist. Vor allem Kinder müssen sich bei einigem gedulden. Wenn ich die Schule fertig habe, dann … Wenn ich achtzehn bin, dann … Wenn ich einen Meter fünfzig gross bin, dann … darf ich in Rust auf den Eurospider. In meinem Alter höre ich wohl am ehesten, wenn ich mal pensioniert bin, dann bin ich frei und mache was ich will. Welche «wenn …, dann …» hören Sie am meisten in ihrem Alltag?

Bei Jesus ist die Satzstruktur: «Selig …, denn …»; aber auch «Weh euch …, denn …».

Bei der ersten Seligpreisung im Lukasevangelium gibt es keine Wartezeit: Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Nun, diese Aussage ist eher ein Frust für mich, wohl für uns alle. Leben wir doch in einem reichen Land und wenige von uns können von sich behaupten arm zu sein. Selbst als Kapuziner mit dem Gelübde «ohne Eigentum» zu leben, hüte ich mich, von Armut zu sprechen. Und das Lukas-Evangelium vermeidet wohlweislich, Armut allzu schnell zu spiritualisieren. Ich denke, dieser Stachel in unserem Fleisch – wie es Paulus wohl formulieren würde – ist sehr wichtig und verhindert, dass wir uns zu schnell aus der Verantwortung für die Verteilung des Reichtums in der Welt nehmen und uns selbstgefällig zurücklehnen. Auch bei uns sind die sozialen Unterschiede gross.

Weiter hören wir aus dem Tagesevangelium:

Selig, die ihr jetzt hungert, denn ihr werdet gesättigt werden.
Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern.

Selig, die ihr jetzt weint, denn ihr werdet lachen.
Weh euch, die ihr jetzt lacht; denn ihr werdet klagen und weinen.

Ehrlich, solche Sätze mag ich nicht. Nein, bitte nicht alles auf den Kopf stellen. Ziel soll es doch sein, dass niemand hungert, dass niemand weint, dass alle glücklich sind und in Fülle leben dürfen. Was sage ich als satter, übergewichtiger Mensch zu solchen Sätzen?

Eben habe ich in der Zeitung (www.journal21.ch) gelesen: «Zehn Prozent der Weltbevölkerung haben nicht genügend Nahrungsmittel. Das sind 811 Millionen Menschen. Allein im letzten Jahr stieg die Zahl um 161 Millionen. Dies berichtet die «UN Global Humanitarian Overview».» Mag sein, dass ich mit den vielfältigen Ursachen oft wenig zu tun habe. In der Zeitung ist zu lesen: «Eine wichtige Rolle spielen bewaffnete Konflikte, extreme Wetterbedingungen, Pflanzenkrankheiten, die Corona-Pandemie, logistische Schwierigkeiten, bedürftige Menschen zu erreichen – und Heuschreckenplagen.»

Und trotzdem dröhnt in meinen Ohren: Weh euch, die ihr jetzt satt seid, denn ihr werdet hungern. Nun, eine echte Antwort auf diesen Weh-Ruf habe ich keine. Höchstens viel Gottvertrauen in Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Auch wir sind seine Geschöpfe und versuchen Verantwortung wahrzunehmen – auch wenn wir manchmal auf der Stecke bleiben.

Ach ja, und wie gehen wir mit dem letzten Gegensatzpaar um:

Selig seid ihr, wenn die Menschen euch hassen und wenn sie euch ausstossen und schmähen und euren Namen in Verruf bringen um des Menschensohnes willen.
Weh, wenn euch alle Menschen loben. Denn ebenso haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht.

Für mich haben diese Sätze gegenwärtig eine besondere Brisanz. Da denke ich beispielsweise an die Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche. Auf den klerikalen und hierarchischen Machtmissbrauch bin ich gar nicht stolz. Da braucht es einige und schnelle Veränderungen im System, aber auch im konkreten Leben.

Was können diese «Selig-» und diese «Weh-Sätze» von Jesus mir heute sagen?

Schwierig. Vielleicht; spring über deine eigenen Schatten, deine Bequemlichkeit, mache dich stark für das Leben und sei kritisch. Ändere deine Lebensgewohnheiten. Werde politisch. Orientiere dich nicht an Meinungen oder an Mehrheiten, sondern steh ein für den Gott des Lebens, der Gerechtigkeit will und Frieden schafft; den Gott der Liebe und der Barmherzigkeit. Überspringe konfessionelle, religiöse, wirtschaftliche, politische Widerstände und vertraue mit Jesus von Nazareth auf das Leben, auch wenn es zu verlieren scheint. Lebe, gewaltfrei und lebensbejahend ….

Paulus, wie wir ihn in der Lesung gehört haben, macht mir Mut. Er schreibt: Nun aber i s t Christus von den Toten auferweckt worden als der Erste der Entschlafenen.
Ja, ich glaube, dass Gott die Schöpfung in seinen Händen hat und das Reich Gottes eines Tages für alle Menschen vollendet wird, auch für uns. Ich glaube und vertraue auf Gott, auch wenn ich noch nicht alle Zusammenhänge und Verbindungen des Lebens und unseres Glaubens verstehe. Vielleicht ist das ein Prozess, wie ich ihn mit meinem Patenkind zusammen auf dem Computer bestaunen konnte, ihn aber jetzt noch nicht verstehen kann. Und da sage ich mir: Trau Gott und seinem Ja zum Leben. Amen.

Bibeltexte 1 Kor 15,12.16-20; Lk 6.17.20-26

Gott sagt ja; der Geist wirkt

Predigt vom 9. Januar 2022 zu Lk 3,15.21-22, Taufe des Herrn

Liebe Getaufte

Johannes der Täufer weiss gut, wer er ist und wer er nicht ist. Er taufe nicht mit dem Heiligen Geist, sagt er seinen Täuflingen. Jesus von Nazareth bekommt im heutigen Tagesevangelium von seinem Vater zugesagt: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.»

Liebe Getaufte, wer sind Sie? Was ist Ihnen zugesagt worden?

Heute, am 9. Januar habe ich Namenstag. Nomen est omen, heisst es. Der Name ist Programm und wurde uns allen von unseren Eltern mit auf den Weg gegeben. Was haben sich unsere Eltern dabei gedacht? Eine meiner Schwestern hatte drei Kriterien für die Namensgebung ihrer Kinder:

  1. Kurz muss er sein, so dass man ihn im Berndeutsch nicht verkürzt.
  2. Da ihr Mann französisch spricht, muss er deutsch und französisch verwendet werden können.
  3. Der Name soll ästhetisch gut tönen. Luc und Joel heissen ihre Söhne.

Heute möchte ich Ihnen erzählen, wie ich die Botschaft meines Namens fand. Jesus von Nazareth hat den Zuspruch «mein geliebter Sohn» erst als Erwachsener erfahren. So erging es auch mir. Als ich bei den Kapuzinern das Postulat begann, fragte mich der Guardian als Erstes: Wann feierst du Namenstag? In Bern kennen wir den Brauch der Namenstage nicht. Ich suchte in der Klosterbibliothek Bücher zum Thema Namen und Namenstag und fand folgende drei Möglichkeiten für meinen Vornamen:

  1. Als ersten Adrian fand ich Hadrian von Nikomedia, der am 8. September gefeiert wird. Hadrian musste nach der Legende als Hauptmann der römischen Armee unter Kaiser Galerius Christen verfolgen. Deren Standhaftigkeit bekehrte ihn und führte ihn zum eigenen Martyrium. Nein, einen Soldaten und Märtyrer wollte ich nicht als Namenspatron. Das kann nicht mein Lebensziel sein. So suchte ich weiter.
  2. Für den 9. März fand ich einen weiteren Adrian. Leider auch Soldat und Märtyrer. Darum forschte ich weiter und wurde
  3. Mit dem heiligen Adrian von Canterbury fündig. Dieser wurde in Afrika geboren und starb am 9. Januar 710 in Canterbury. Sympathisch war und ist mir Adrian von Canterbury, weil er sich sehr für Bildung, Wissen, die Vernetzung von Kulturen sowie Verständigung und Frieden einsetzte. Dazu übernahm er auch Verwaltungs- und Planungsaufgaben. Das macht ihn mir sympathisch und das gab mir ein Lebensprogramm, mit dem ich mich 1989 anfreunden konnte und ich heute noch hochhalte. Dafür kann und will ich leben.

Wie ist das Namensprogramm von Jesus? Der Name Jesus ist die Kurzkurzform von Jehoschua. Der Name Jehoschua wurde nach dem babylonischen Exil meist in der Kurzform Jeschua verwendet. Jeschua war ein verbreiteter Vorname und kommt in der hebräischen Bibel vor allem als «Jehoschua ben Nun» vor. Jehoschua ben Nun hat das Volk Israel in das gelobte Land Kanaan geführt. Das biblische Buch Josua ist nach ihm benannt. Das Programm von Jehoschua ben Nun lässt sich auch auf Jesus von Nazareth übertragen: Jesus führt sein Volk zwar nicht ins gelobte Land Kanaan, aber die ganze Schöpfung durch Heilung und Versöhnung ins Reich Gottes. Das war sein Lebensprogramm: durch Heilung und Versöhnung ins Reich Gottes.

Unser heutiges Tagesevangelium enthält mehr als menschliche Zusagen und Absichten. Es ist Gott, der Heilige Geist in Gestalt einer Taube, der auf Jesus herabkommt, und eine Stimme aus dem Himmel, die sagt: «Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen gefunden.» Es sind dies nicht menschliche Versprechen und Wünsche, sondern Gottes Zusage, die sich bei der Taufe durch Johannes ereignet. Diese Sohnes-Zusage gibt Jesus uns weiter, indem er uns lehrt, zum «Vater im Himmel» zu beten. So werden wir alle zu Töchtern und Söhnen des einen Gottes, aber auch zu Geschwistern vor ihm und mit ihm, Jesus von Nazareth.

Durch unsere eigene Taufe dürfen wir glauben, dass Gott zu uns ja gesagt hat und uns beisteht. Und vielleicht wurden ihnen, liebe Mitfeiernde, in ihrem Leben sogar Erfahrungen geschenkt, die sie als Gottes-Begegnungen und Zusagen erlebt haben. Oft bleiben innere Gewissheiten, die uns Sicherheiten, Überzeugungen schenken. Oder auch ein klares Gespür für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Gerechtigkeitsempfinden kann nach der Bibel Ausdruck von Gottes Gegenwart in unserem Leben sein. Im Titusbrief hörten wir zusätzlich vom besonnen leben, als Zeichen Gottes Wirken in unserem Leben.

Vielleicht mögen die Zusage aus dem Glauben lieber etwas theologischer formuliert. In der Lesung hörten wir: Den Heiligen Geist hat Gott «in reichem Mass über uns ausgegossen durch Jesus Christus, unseren Retter, damit wir durch seine Gnade gerecht gemacht werden und das ewige Leben erben, das wir erhoffen.» Tit 3,6-7. Kurz gesagt: es geht um Gottes Ja zu uns und des Geistes Wirken in unserem Leben. Amen.

Wertschätzung und Zeichen

Predigt vom 19. Dezember 2021 zu Lk 1,39-45

Liebe Brüder, liebe Schwestern

Begegnungen prägen unser Leben und können Ausdruck von unserem Glauben und unserer Nächstenliebe sein. Spezielle Begegnungen werden auch als Gott gegeben, oder sogar als Gottesbegegnung wahrgenommen. Franz von Assisi erzählt in seinem Testament:

«Es kam mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. Und der Herr selber hat mich unter die Aussätzigen geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam in Süssigkeit der Seele und des Leibes verwandelt». Test 1b-3a

Sowohl bei Franziskus wie auch bei Maria und Elisabeth geschieht Begegnung nicht irgendwie im Kopf und abstrakt. Nein, sie ist körperlich und sozial wahrnehmbar. Sie geht tiefer und wird auch körperlich wahrgenommen. Sei dies das hüpfende Kind im Bauch der Elisabeth oder sogar der Geschmacks-wandel vom bitter zur Süssigkeit der Seele und des Leibes bei Franziskus.

Vor zwei Monaten war ich an einer Ausbildung für Spitalseelsorger. Clinical Pastoral Training heisst sie. Dabei wurden seelsorgerliche Begleitgespräche aus der Praxis sowie freie Gespräche analysiert. Als Wegweiser wurde mir dabei der Merksatz: Weg von der Blackbox, aber Wertschätzung und Zeichen geben. (2x)

Blackbox: Der Mensch ist kein unbeschriebenes Blatt. Er hat eine Geschichte und Gefühle; Erinnerungen und Stimmungen. Bei einem schlechten Bauchgefühl helfen Argumente meist wenig. Vordergründig scheinen Meinungsverschieden-heiten oft sachliche Fragen zu betreffen. Aber der andere – dann gerne als Sturkopf wahrgenommen – muss mit seinen Gefühlen, Überzeugungen und Ängsten wahrgenommen werden. Er ist ein soziales Wesen aus Fleisch und Blut, kein Computer und kein Roboter. Weg von der Blackbox heisst hier tiefer sehen und den ganzen Menschen wahrnehmen. Mit Herz und Sinnen, Erinnerungen.

Bei der Begegnung von Maria und Elisabeth treffen sich keine Blackboxen, sondern Menschen, die sich kennen und sich gegenseitig etwas Wert sind. Der Text spricht von einer grossen Vertrautheit zwischen den beiden Frauen. Maria eilt und kann nicht warten, bei Elisabeth anzukommen, einzutreten und mit Elisabeth ihr Mutterglück zu teilen. Elisabeth spürt bei der Begegnung das Kind hüpfen in ihrem Bauch und ruft mit lauter Stimme. Wie viel Körperlichkeit hier mit der Begegnung und mit dem heiligen Geist in Verbindung gebracht wird, lässt staunen. Gott bewegt konkret. Mit Fleisch und Blut.

Wertschätzung und Zeichen geben ist der zweite Schritt in der Begegnung. Den anderen also nicht nur wahrnehmen, sondern auch segnen, wie es Beispielsweise Elisabeth mit Maria macht und sie so wertschätzt. Sie schweigt nicht und denkt Gutes, sondern Elisabeth bringt Gefühle auch im Ruf akustisch zum Ausdruck. Im Testament schreibt Franziskus von «Barmherzigkeit erweisen». Das meint hier nicht, den Armen mit Geld oder Gütern abspeisen, sondern die Aussätzigen körperlich wahrnehmen und pflegen, mit ihnen Kontakt pflegen. Sie wertschätzen, sich ihrer anzunehmen.

Vielleicht ist bei diesem Thema auch daran zu erinnern, dass das Schwyzer Kloster heute so zentral, nahe der Kirche liegt, weil die Kapuziner während der Pest in Schwyz sich auch um die Pestkranken verdient gemacht hatten und darum in die Stadt hinein geholt wurden. Sie hatten nicht nur gebetet und gepredigt, sondern sie hatten sich pflegend eingesetzt. Auf der Tafel dort steht unter anderem zu lesen: «Hier ruht in Gott Michael Angelus Meyer … im Rufe der Heiligkeit als Opfer des Pestkrankendienstes vom Klösterli St. Joseph in diese Kirche übertragen …» Und von nicht ungefähr betont der ehemalige Schweizer General der Kapuziner weltweit, Mauro Jöhri, dass die Kapuziner in den Anfängen dank der Pflege bei den Menschen beliebt wurden. Nicht als Kopfmenschen, sondern als Brüder der Nächstenliebe und der Pflege.

Elisabeth und Maria, aber auch Franz von Assisi sowie Michael Angelus Meyer haben es uns vorgelebt: Weg von der Blackbox, aber Wertschätzung und Zeichen geben. (2x) Und auch heute noch wird das unser Christsein prägen und gestalten. Vielleicht ist dieser Merksatz eine weitere Formulierung für den manchmal etwas abgegriffenen Begriff «Nächstenliebe»: Dem konkreten Menschen in meiner Nähe ein Gesicht geben, seine Gefühle und Bedürfnisse wahrnehmen und ihm Wertschätzung und Zeichen zukommen lassen, das wünsche und rate ich uns immer wieder neu. Amen.