Jesus herausfordern

Predigt vom 20. August 2023, Röm 11,13-15.29-32, Mt 15,21-26

«Frau … Was du willst, soll geschehen.» (Mt 15,28) haben wir im Sonntags-Evangelium gehört. Normalerweise beten wir im Vaterunser «Dein Wille geschehe». Jesu Aussage scheint mir direkt etwas verkehrte Welt zu sein. «Frau … Was du willst, soll geschehen.» Und gleichzeitig erinnere ich mich an jüdische Freunde, die während meinem Theologie-Studium ihren Glauben und vor allem ihre Gebete mit mir geteilt haben. Da begegnete ich einer Sprache, die mit Gott ringt. Nicht christlich fromm, brav und zahm. Und in den Psalmen begegne ich im Tagzeitengebet mit den Brüdern immer wieder solchem Ringen mit Gott. Die Psalmisten kennen keine Sprache einer christlich, kindlichen, gottergebenen Frömmigkeit.

Vielleicht will Gott, dass wir über unseren Schatten springen und mit ihm ringen, unsere Anliegen zur Sprache bringen. Ich denke an Jakob am Jabbok im Buch Genesis (32,25): «Als er allein zurückgeblieben war, rang mit ihm ein Mann, bis die Morgenröte aufstieg.» Oder auch an die Offenbarung des Johannes (3,16): «Daher, weil du lau bist, weder heiss noch kalt, will ich dich aus meinem Mund ausspeien.» Es gab Zeiten, da war mir die Geschichte mit Jakobs Ringen am Jabbok sehr wichtig und hat meinen Glauben genährt. Doch heute bitte lieber ruhig und nicht so anspruchsvoll. Selbst das Kreuz, ein lebloses Symbol, holt mich nicht aus den Socken; vor allem wenn ich dahinter immer schon den Auferstandenen sehe. Oder all die verzückten Heiligen. Bin ich etwas lau und bequem geworden? Ein bedürftiges Kind?

Wenn ich das heutige Tages-Evangelium (Mt 15,21-28) nehme. Da fühle ich mich eher wie die Jünger. Es kommt eine fremde Frau und will was. «Ach mühsam. Gib doch Ruhe. Bitte.» stelle ich mir vor. Ein schreiender Mensch, der den Frieden stört – und Gott schweigt. «Jesus gibt ihr keine Antwort. Da traten die Jünger zu Jesus und baten: Befrei sie von ihrer Sorge, denn sie schreit hinter uns her.» (Mt 15,23) Das kommt mir bekannt vor. Wie oft erlebe ich Gott als schweigend und nicht handelnd. Menschen schreien. Not und elend gibt es auf der Welt. Und Gott schweigt. Lieber Gott, tu doch etwas. Dein Schweigen hilft den Leidenden nicht weiter. Und wir, deine Jünger und Jüngerinnen leben doch so schön, bequem und friedlich. Aber das Geschrei der Leidenden, der Fremden, der Unterdrückten nervt. Mach doch, lieber Gott, dass sie Ruhe geben. Lass uns gemütlich unsern Glauben leben!

Interessanterweise kommen die Jünger im Tages-Evangelium nach ihrer Ruhe-Intervention nicht mehr vor. Es geht in der Erzählung um den Konflikt zwischen der Frau und Jesus; in unserer Vorstellung auch zwischen einem Menschen und Gott. Die Frau ist hartnäckig und weiss, was sie will. Ihre Tochter soll geheilt werden und da lässt sie sich auch von Jesus nicht abwimmeln und zurückweisen. Sie insistiert und argumentiert. Lässt sich auf Jesus ein. Jesus versucht in zwei Anläufen den Forderungen der Frau auszuweichen.

«Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.» (Mt 15,24) Und:

«Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.» (Mt 15,26)

Harte, unschöne Worte, finde ich. Jesus von Nazareth hat sich vermutlich zeitlebens nur zum Volk Israel gesandt gefühlt. Er hatte nicht alle Völker oder alle Menschen auf dem Bildschirm. Zuerst soll das Volk Israel bekehrt werden und erst nachfolgend kommt die Völkerwallfahrt nach Jerusalem. Paulus von Tarsus und spätere Generationen von Juden-Christen haben diesbezüglich eine andere Richtung eingeschlagen. Jahrzehnte nach dem Tod von Jesus lösten sich das Christentum aus dem Judentum und wurde eine eigene Welt-Religion. Aber eine, die auch für Heiden-Christen wie wir Platz hatte.

Für mich als Schweizer hat der historische Jesus eine echt harte Botschaft:

«Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.» (Mt 15,24) Also nicht zu den Helvetiern. Und:

«Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.» (Mt 15,26) Ist ein Eidgenosse, eine Eidgenossin ein Hund? Nicht auch ein Geschöpf Gottes!

Da nehme ich mir die kanaanäische Frau gerne als Vorbild! Sie will nicht etwas für sich, sondern für ihre Tochter. Und Jesus könnte helfen. Das glaubt sie standhaft. Und da akzeptiert sie keine ethnischen Grenzen, auch kein Nein von Jesus himself. Gottes Heil ist für alle Menschen da fordert die fremde Frau.

«Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!» (Mt 15,25)

«Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen.» (Mt 15,27)

Liebe Christen und Christinnen, Schweizer und Schweizerinnen

Vier Dinge nehme ich mir aus dem heutigen Tages-Evangelium in meinen Alltag:

  1. Mit Gott kann man ringen und argumentieren. Dabei zeigt uns Jesus von Nazareth, dass auch er – wohl auch Gott – über seinen Schatten springen kann. Es scheint einiges gar nicht so klar zu sein und Geschichte meint auch Entwicklung. Ich kann und soll also aus meiner Komfort-Zone herauskommen und mich für meine Nächsten einsetzen. Dabei hoffe ich, dass Gott mir, uns beisteht.
  2. Jesus von Nazareth will nicht wie die Jünger einfach Ruhe und billigen Frieden. Er lässt sich herausfordern und stellt sich der Frau, dem Menschen, der sich ihm in den Weg stellt. Dabei kann er über seinen Schatten springen und seine Meinung ändern.
  3. Im Ringen mit Gott braucht es mehrere Anläufe und vor allem auch Köpfchen, Aufmerksamkeit und gute Argumente. Die Frau verlässt sich nicht auf Tränen oder Schreien, sondern auf den gesunden Menschenverstand, auf Wissen und Argumente. Nicht kindlich, aber erwachsen begegnet die Kanaanäerin Jesus, dem Israeliten.
  4. Glaube ist nicht diffus, sondern er hat Ziele, engagiert sich, fordert ein. Und da kann die Welt und der Himmel mit Gottes Hilfe auf den Kopf gestellt werden: «Frau, dein Glaube ist gross. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt.» (Mt 15,28) Amen.

Fürbitten

Gott, du hast der kananäischen Frau Mut und offene Augen gegeben. Im Gedenken an sie bitten wir dich:

  • Gott, gib uns offene Augen wie der kananäischen Frau für unsere Nächsten.
  • Gott, lass uns wie Jesus auf engagierte Menschen hören und dabei auch ab und zu über unsere Komfortzone herauskommen.
  • Gott, lass uns Not wahrnehmen und zur Sprache bringen.
  • Gott, gib uns offene Sinne auch für Menschen anderer Religionen.

In der kananäischen Frau ist deine Menschenfreundlichkeit herausgefordert worden. So lass uns durch ihr Beispiel mit dir die Welt gestalten.

Friedenbildend Krieg führen

Artikel aus ITE 2023/3; Ein gewonnener Krieg macht keinen Frieden

Frieden ist in steter Entwicklung und oft eher ein Wunsch für die Zukunft, denn Realität in der Gegenwart. Die Schweiz ist ein wunderbares Modell für Friedenspolitik. 2023 feiern wir 175 Jahre Schweizer Bundesverfassung und 75 Jahre AHV. Und immer noch wird am friedlichen Zusammenleben, auch am sozialen Frieden gearbeitet. Leben Schweizer*innen heute im Krieg oder im Frieden?

Als ich 2022 von Rapperswil ins Kapuzinerkloster Schwyz versetzt wurde, betrat ich einen neuen Kulturraum. Und natürlich besuchte ich das Eidgenössische Bundesbriefmuseum vor Ort. Die erste grosse Überraschung: Da gibt es nicht nur den einen berühmten Bundesbrief von 1291, sondern ganz viele solcher Briefe und Verträge aus dem Mittelalter. Am meisten imponiert hat mir der Vertrag von Uri, Schwyz und Unterwalden mit Bern, von 1353. Die Ur-Eidgenossen bekamen Angst vor dem aggressiven und sich expandierenden Bern. So bemühten sich Uri, Schwyz und Unterwalden um ein Bündnis mit dem unberechenbaren Nachbarn im Westen. Die stämmigen Innerschweizer fühlten sich mit einem Vertrag sicherer vor Bern und hatten erst noch einen guten Partner gegen Habsburg. Die drei Kantone versprachen im Gegenzug Soldaten, damit den Bernern an der Westfront die Söldner nicht ausgehen. In der Westschweiz zeugen heute noch viele Zwingburgen – vor allem am Neuenburger- und Genfersee – von diesem Ausbreitungsdrang der Berner.

Kriege in der Schweiz

Die zweite, noch grössere Überraschung für mich: Der letzte, mit Waffen ausgetragene, Bürgerkrieg auf Schweizer Boden fand 1847 statt – der Sonderbundskrieg. Vor 176 Jahren also. Und war es damit wirklich fertig? Im Jura-Konflikt gab es in unterschiedlichen Gegenden Menschen, die an andere Orte fliehen mussten, weil sie zur falschen Pro-Gruppe gehörten, Bern oder Jura. Migrant*innen im eigenen Land also. Ob dieser Konflikt jetzt befriedet ist? Oder wird das einst imperiale Bern weitere Gebiete abtreten müssen, die es dank Söldnern aus der Innerschweiz einst erobern konnte?

War die Schweiz seit 1847 wirklich ein befriedetes Land? Wie ist der Generalstreik von 1918 einzuordnen? Wie steht es mit unserem Frieden zu anderen Ländern, international? Gut achtzigjährige Schweizer*innen erinnern sich noch an Krieg, Kriegswirtschaft und Anbauschlacht. Und heute? Wie steht es mit unserem Verhältnis zu Russland? Ein harmonischer Friede oder eher ein Wirtschaftskrieg?

Konflikte und Lösungen bis 1848

Wie kam es eigentlich zum letzten (offiziellen) Bürgerkrieg der Schweiz? Der Historiker Georges Andrey fasst die komplexe und konfuse Vorgeschichte in der «Geschichte der Schweiz und der Schweizer» von 1986, Seite 621, in sehr dichter Form zusammen:

«Der Weg zum handlungsfähigen Bundesstaat führte durch Krisen und Spannungen verschiedenster Art, durch verdeckte Konflikte und offene Auseinandersetzungen, die nur hin und wieder durch Annäherungen und Akte der Versöhnlichkeit überbrückt wurden. Vor allem die Eidgenössischen Schützenfeste gaben jeweils Anlass zu Bekundungen von brüderlicher Solidarität und gemeinsamem Patriotismus. Krieg und Frieden zwischen den Kantonen waren der Ausdruck einer mühevollen Suche, eines langen Marsches von der alten Eidgenossenschaft zum modernen Bundesstaat. Konflikte und Spannungen kamen den Zeitgenossen stärker zum Bewusstsein als die Ansätze zu friedlicher Konfliktlösung. Auf institutioneller Ebene gab es aber beides, Konkordate und Konventionen auf der einen, Abspaltungen und Sonderbündnisse auf der anderen Seite, die das eidgenössische Zusammenleben zwischen 1803 und 1848 positiv und negativ beeinflussten.»

Der Sonderbundskrieg

Der Schweizer Bürgerkrieg von 1847 ist komplexer, als man sich denken könnte. Es geht nicht um katholische gegen reformiert-liberale Menschen. Denn auch katholische Kantone wie Solothurn, St. Gallen und Tessin kämpften mit der reformiert-liberalen Mehrheit. Interessanterweise sind die Anführer beider Seiten konservativ und reformiert. Beide Generäle waren weder katholisch noch liberal. Interessanterweise hat dieser Konflikt – langfristig gesehen – keine tiefen Wunden hinterlassen und ist heute fast vergessen.

Der Historiker Benedikt Meyer schreibt dazu: «‹Nous devons sortir non seulement victorieux, mais aussi sans reproche›*, hatte General Dufour seine Soldaten ermahnt. Und tatsächlich gab es fast keine Plünderungen, und die Verluste waren mit 93 Toten und rund 500 Verwundeten für einen Bürgerkrieg moderat. Dufour war nicht nur ein begnadeter Kartograf und Stratege, er gehörte später auch zu den Gründern des Roten Kreuzes. Nach dem Krieg erhielt die Schweiz 1848 ihre erste Verfassung, eine Hauptstadt und eine übergeordnete Regierung.» (Vgl. https://blog.nationalmuseum.ch/2019/08/der-sonderbundskrieg/)

Friedensarbeit: Pace e bene

Siegen, aber keine Vorwürfe machen, war das Motto während des Sonderbundkrieges. Auch wurden menschliche Übergriffe und Plünderungen unterlassen – eine Forderung, die schon Niklaus von Flüe an die Soldaten stellte. Die besiegten Kantone sollten nicht auf die Schlachtbank geführt, sondern möglichst integriert und in ihrem Stolz gestützt werden. Und wohl sehr wichtig; die neue Verfassung im amerikanischen Stil. Konflikte sollen nicht mehr mit Waffen, sondern durch eine Rechtskultur friedlich geregelt werden. Die erste Verfassung schien so gut gewesen zu sein, dass es in den vergangenen 175 Jahren nur zwei grössere Verfassungsreformen brauchte. Vielleicht kann man sagen, dass zum Frieden eine geregelte Konflikt- und Gerechtigkeitskultur gehört.

Doch gehört zum Frieden (pace) auch das Gute (bene). Was nützt einem hungernden alten Menschen die Freiheit, wenn daraus Tod wird. Gerade deshalb finde ich es schön und sinnvoll, dass wir dieses Jahr auch 75 Jahre AHV feiern. Denn ohne die nötigen Lebensgrundlagen, die sich im Verlaufe der Zeit verändern, bringt der schönste Frieden nichts. Wenn man heutige Armutsfaktoren betrachtet, dann sind beispielsweise alleinerziehende und alte Menschen besonders gefährdet. Der Geiz der Reichen stützt in solchen Situationen keinen sozialen Frieden.

Frieden für die Zukunft

Es mag sein, dass der letzte Bürger-Krieg in der Schweiz vor 176 Jahren stattfand. Doch sollten wir Schweizer*innen auch künftig am eigenen wie auch am internationalen Frieden arbeiten. Mit Recht und sozialer Verantwortung scheint es in der Vergangenheit im Bundesstaat gut gelaufen sein. Und da braucht es stets neue Justierungen und Verbesserungen. Und macht einander keine Vorwürfe, würde General Dufour mahnen.

* Überstzung: Wir müssen daraus nicht nur siegreich, sondern auch unbescholten hervorgehen.

Eine andere Perspektive

Predigt zu Ex 19,2-6a; Mt 936-10,8

Gott verblüfft mich immer wieder neu und lässt mich staunen. Natürlich haben wir in der Schule das Zeitalter der Ägypter durchgenommen und kennengelernt. Es ging dabei um Pharaonen, um meisterliche Bauwerke und eine spannende Kulturgeschichte. «Was diese Ägypter nicht alles konnten, berechneten und vollbrachten – und das schon vor dreitausend Jahren!» So würde ich den Geschichts-Unterricht von Lehrer Jauch in der fünften Klasse zusammenfassen. Viele Touristen reisen heute noch nach Ägypten und staunen über die untergegangene Kultur. Welch eine Kultur?! Und das schon vor dreitausend Jahren! Faszinierend und einmalig.

Doch Gott, oder zumindest die Bibel, haben einen ganz anderen Blick auf diese Zeit. Nicht der Pharao, seine Priester oder Gelehrten, stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit. Der mächtige Pharao wird in der Bibel sogar zum verstockten und verblendeten Herrscher, Anti-Helden. Der Blick der Bibel ist auf die Kleinen, Unterdrückten, Heimatlosen gerichtet. Mit Ihnen und nicht mit den Mächtigen jener Zeit wird ein Bund geschlossen. Dem Haus Jakob und den Israeliten lässt Gott sagen: «Mir gehört die ganze Erde, 6 ihr aber sollt mir als ein Königreich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören.» (Ex 19,5c-6a) Davon hat uns Lehrer Jauch in der Schule nichts erzählt, in der Geschichte der Mächtigen und der Angesehenen des Geschichtsunterricht. Und eben, die Erde gehört Gott und nicht einem Sonnenkönig.

Mindestens drei Mal wurden in meiner Schulzeit die Römer im Geschichts-Unterricht durchgenommen. Römer konnten organisieren und regieren – okay, dass damit Unterdrücken und Ausbeuten gemeint war, wurde uns nicht gesagt. Die Römer wurden eher als Retter vieler Völker dargestellt. Von den vielen gekreuzigten Menschen dieser Zeit kein Wort. Auf Schulreisen haben wir römische Orte der Schweiz besucht. Und später im Lateinunterricht: Der Krieg mit den Galliern. Monate, ja jahrelang. Pater Disler war im Element und man merkte, dass er von einer wichtigen, ja heiligen Zeit erzählte. Und all die Dichter mit ihren wunderbaren Versformen; und für mich der Höhepunkt: die römischen Philosophen. Ein wahrhaft gebildetes und kultiviertes Volk, die Römer! Selbst heute noch müssen Juristen während dem Studium das römische Recht lernen. Und viele sind ganz fasziniert davon. Doch die Namen Jesus von Nazareth oder Paulus von Tarsus kommen dabei nicht vor.

Die Evangelien, das Neue Testament erzählen von Jesus von Nazareth. Und dieser sagt zu seinen Jüngern: «Geht nicht den Weg zu den Heiden und betretet keine Stadt der Samariter, 6 sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel!» (Mt 10,5-6) Jesus empfiehlt die Römer den Jüngern also nicht. Da wird in den Evangelien nichts von den erfolgreichen Römern, ihrer Lyrik oder ihrer Philosophie erzählt. Nicht einmal etwas von den berühmten römischen Strassen und Bäder. Nein, ein erobertes und unterdrücktes Volk wird von Jesus von Nazareth angesprochen – und dieses wird von anderen Völkern ferngehalten. Selbst die Samariter oder Samaritaner, die ja wie die Juden aus dem Volk Israel hervorgegangen sind, werden aussen vor gelassen.

Was für ein Gott?! Was für ein Glaube?! Und wir Christinnen und Christen in seinen Spuren? Schauen wir nicht eher auf die Mächtigen unserer Zeit, auf grosse Politiker, Medien-Stars und vor allem Reiche, heute oft auch Oligarchen genannt! Und je lauter einer ist, desto mehr Aufmerksamkeit ist ihm gewiss.

Jesus lädt uns nicht zur Unterwürfigkeit und zum Staunen über die Grossen, Lauten unserer Tage ein. Nein: «Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe! 8 Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!» (Mt 10,7-8)

Leben ist nicht zuschauen und warten. Das Heil kommt nicht von den Mächtigen und Reichen. Auch nicht vom Bekehren und freundlichen Umgang mit diesen. Sondern ganz konkret. Auf Augenhöhe dürfen wir leben und wirken. «Heilt Kranke, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus!» Heilen, erwecken und austreiben kann ich leider nicht. Doch ich kann mich Kranker annehmen, Sterbende begleiten, an den Rand gedrängte Menschen in unsere Gemeinschaft integrieren und dem Bösen, Beleidigenden, Zerstörerischen, Schlechten widerstehen. Keine grosse Show, kein Glamour, kein Imperium, aber ganz alltäglich, unaufgeregt und aus Liebe motiviert: «Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben.» (Mt 10,8b). Zu einem solchen heilsamen, konkreten und wohlwollenden Leben sind wir eingeladen. Auch heute. Und so dürfen wir uns als Jünger und Jüngerinnen Christi fühlen. Dazu wünsche ich uns allen innere Kraft und gutes Gelingen. Amen.

Glaubens-Erweiterungen

Auferstehungsgottesdienst Norbert Seibert, 7. Juni 2023

Die heutige Lesung der Apostelgeschichte (10,1-22) erzählt uns zwei Glaubensgeschichten an wichtigen Wendepunkten. Dabei geht es nicht um ein hagiografisches vorher alles schlecht und böse, dann alles ideal und alles gut. Die Apostelgeschichte erzählt von zwei wichtigen Glaubens-Erweiterungen – so würde ich dies nennen.

Kornelius ist fromm und gottesfürchtig, gibt dem Volk reichlich Almosen und betet beständig zu Gott. Was braucht es da noch? So könnte man fragen. Doch der Engel Gottes tritt zu Kornelius und lädt ihn zu einer Begegnung mit Petrus ein. Was diese Begegnung dann bringen will, sagt der Engel nicht. Er beschreibt Kornelius den Weg zu Petrus sehr genau. Was will Gott von mir, muss er sich fragen. Die Antwort wird dem Gottesfreund die Zeit und ein Mensch, Petrus, geben.

Auch bei Petrus geht es im gehörten Text um eine Glaubens-Erweiterung. Er ist Jude und gehört zum auserwählten Volk. Ja, er hat sogar mit Jesus von Nazareth zusammengelebt. Was will man mehr? Und trotzdem wird er von Gott verzückt, verwirrt. Er sieht ein Bild und hört eine Stimme. Petrus bleibt ratlos und begibt sich in die Begegnung mit den drei Männern, die von Kornelius zu ihm geschickt wurden. «Aus welchem Grund seid ihr hier?» Sein Verständnis von Gottes Botschaft muss sich noch entwickeln. Gegeben sind Weg und die Begegnungs- und Gesprächspartner.

Die Gottes-Begegnung lassen sowohl Kornelius als auch Petrus mit neuen Fragen und Aufgaben zurück. Die Antwort wird ihnen die Zeit und die Begegnung mit ihnen noch unbekannten Menschen geben. Kornelius wird sich nach langem Prozess taufen lassen. Petrus wird lernen, dass Jesus Christus nicht nur für Juden gelebt, gewirkt, geheilt, vergeben hat und dann nach dem Tod auferweckt wurde.

Fromme, vorbildliche Menschen werden in ihrem Glauben und Gottesbild verunsichert und bereichert, so würde ich die beiden Glaubens-Erweiterungs-Geschichten zusammenfassen. Bisheriger, guter Glaube wird von Gott in Frage gestellt. Dem Gläubigen tun sich neue Horizonte auf.

Ähnliches finde ich in der Lebensgeschichte von Bruder Norbert. In seinem Leben finde ich zwei spezielle Situationen, die ihn besonders geprägt haben. Die Erste: Tod seiner Schwester: «Die Begegnung mit dem frühen Tod meiner Schwester hatte mich sehr betroffen gemacht», schreibt Norbert. Wenigen vertrauten Menschen hat er darüber erzählt.

Die zweite prägende Begegnung erlebte Norbert als vierzig Jähriger. Er hatte in diesem Alter schon einiges erlebt. Er war Schreiner, nach einem Arbeits-Unfall wurde er Psychiatrie-Pfleger. Norbert hatte bei den Jesuiten ein Noviziat begonnen und abgebrochen, liess sich aber bis zum Tod des Novizenmeisters der Jesuiten, 2015, von diesem begleiten. Es gibt einen guten ignatianischer Boden, der Norbert getragen hat. In der Diaspora-Pfarrei Langnau konnte Norbert sich wunderbar einfinden und fand Heimat. «So wirkte ich als Lektor und Kommunionspender, sowie auch aktiv im Kirchenchor mit», liest man in Norberts Lebenslauf. Eigentlich alles in Butter? Der liebe Gott hätte die Dinge laufen lassen können. Oder etwa nicht?

Aber ohalätz. Wie bei Kornelius und Petrus beginnt mit 40 plötzlich eine lang andauernde Glaubens-Erweiterung! Zitat: «1986 begegnete ich zum ersten Mal in Assisi der Gestalt und dem Leben des heiligen Franziskus», schreibt Norbert. Alles klar? Nein, im Gegenteil! Jetzt beginnt sie erst richtig, die Verwirrung, wie es auch bei Kornelius und Petrus geschildert wird. Norbert: «Nach langem Suchen entschloss ich mich in den Orden der Minderbrüder Kapuziner einzutreten». Und gelassen suchend sowie interessiert habe ich Norbert bis zu seinem Tod erlebt. Er war spirituell wach, las, betete und liess sich inspirieren von Predigt und Liturgie.

Und vermutlich erlebte Norbert deshalb in der Ausbildungs-Gemeinschaft in Salzburg prägende, schöne und glückliche Zeiten. In Salzburg waren er und auch andere auf dem Weg, am Suchen, am Ringen, am Erweitern des Glaubens. Was will Gott von mir? Gleichzeitig konnte Norbert an diesem lebendigen Ort eine gute Stütze sein auf dem Weg mit Gott. Schilderungen und Dankbarkeit von jüngeren Kapuziner geben Zeugnis davon.

Oft lenkte Norbert von seiner eigenen Person ab, wenn das Gespräch auf ihn fiel. «Es ist schön Wetter draussen», war der Signal-Satz, den wir in Schwyz ab und zu hörten. Und da wussten wir: Themenwechsel. Nicht Norbert im Mittel-Punkt, bitte. Vielleicht hilft unserem Verständnis von Norbert die Christus-Ikone aus seinem Zimmer weiter.  Christus mit segnender Gäste, den Text hörten wir im Evangelium «Kommt alle zu mir, die ihr Mühe habt und beladen seid. Ich werde euch Erleichterung verschaffen. (Mt 11,25-39). Und es ist unser Vertrauen und Glauben, der uns hören lässt. Ja, Norbert wurde durch Tod und Auferstehung Erleichterung verschaffen. Amen.

Herausgefordert zum Umdenken

Telebibel – 1. bis 16. Juni 2023 – Apostelgeschichte 10 …

Die ersten Christen und Christinnen, eigentlich noch Juden und Jüdinnen, waren gefordert über den eigenen Schatten zu springen. Davon und von der Gemeinschaft des Glaubens erzählt die Apostelgeschichte. Auch heute sind Christen und Christinnen gerufen über eigene Schatten zu springen – und dies in Gemeinschaft sowie mit Gott. Vom 1. bis 16. Juni zu hören bei der Telebibel Zürich.

Vom Glauben erzählen

Predigt zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel

Für heutige Christen und Christinnen ist ein Buch, nämlich die Bibel mit dem Alten und Neuen Testament für den Glauben sehr wichtig. Dem war nicht immer so. Das Christentum ist heute eine sogenannt sekundäre Buchreligion. Unser heiliges Buch, die Bibel, wurde von vielen Menschen – von Gott inspiriert – aufgeschrieben. Doch ist nicht Gott selbst der Schreiberling, sondern Menschen sind mit ihren Glaubens-Erfahrungen die Autoren der Bibel. Bei primären Buchreligionen wäre die Heilige Schrift von Gott selbst aufgeschrieben worden.

Jesus von Nazareth kannte noch kein heiliges Buch, geschweige denn eine Bibel. Auch seine Jünger nicht. In der Synagoge wurde aus Rollen vorgelesen, vor allem die fünf Mose-Rollen sowie einige Rollen mit Prophetenbücher waren damals in der Synagoge von grosser Bedeutung. In den Evangelien wird uns ein Jesus gezeigt, der mit Menschen diskutiert und von seiner engen Beziehung mit Gott erzählt. «Denn die Worte, die du mir gabst, habe ich ihnen gegeben und sie haben sie angenommen», so hörten wir im Tages-Evangelium (Joh. 17,8). Jesus von Nazareth kommunizierte vor allem mit Worten sowie Taten und zitierte ab und zu ein Wort aus den Schriften, Rollen. Dabei scheinen es zumeist nicht langweilige Monologe gewesen zu sein, sondern oft heisse Diskussionen, Streitgespräche. Und nicht zu vergessen sind Jesu Taten, Hungrige speisen, Kranke heilen, Sünden vergeben, usw… Davon haben sich die Menschen erzählt.

Die Urgemeinde, wie wir sie in der Apostelgeschichte hörten, verharrte einmütig im Gebet (Apg. 1,14) und erinnerte sich an den verstorbenen und in ihrem Glauben auferstandenen Jesus Christus. Bücher kannten sie keine, schon gar nicht eine Bibel, wie christliche Kirchen sie heute hochhalten. Die Urchristen lebten Bibel-los. Mit der Zeit gab es Briefe zu lesen, die von Paulus und Co. geschrieben wurden. Später Evangelien usw. Noch später wurde kanonisiert.

Interessanterweise lebten die Christen und Christinnen im Mittelalter lange ziemlich Buch- und Bibel-los. Ja, bis ins 12. Jh. war es Laien verboten in der Bibel zu lesen. Zur Zeit eines Franz von Assisi, im 13. Jahrhundert, kostete eine damals noch handgeschriebene Bibel gleich viel wie ein Landwesen eines Adligen und selbst Klöster hatten nicht für jeden Mönch eine Bibel, wenn überhaupt. Alle nicht steinreichen Menschen sowie so nicht.

Apostel und Menschen des Mittelalters haben sich an Jesus von Nazareth erinnert und erzählt, Bilder betrachtet, selten gelesen. Zur Zeit eines Franz von Assisi wurden im Gottesdienst Bibelstellen vorgelesen, doch hatten Pfarrer kaum vollständige, handgeschriebene Bibelausgaben. Das wäre zu teuer gewesen. Erst mit dem Buchdruck konnten Bücher gedruckt werden. Normale Menschen lernten jedoch oft erst im 19. Jahrhundert lesen.

Nachdem im letzten Jahrhundert Radio und Fernsehen unsere Kultur sehr geprägt haben, hat sich nach 2007 mit dem Beginn des Smartphone Zeitalters einiges geändert. Radio und Fernsehen sind lineare Medien. Einer oder wenige erreichen mit ihre Botschaft viele Menschen, die nicht antworten können. Im Smartphone Zeitalter ist Interaktion zwischen vielen Menschen möglich. In Chatgruppen kann diskutiert und kommentiert werden. Einige haben mehr Erfolg gehört zu werden, andere weniger. Die soziale Kommunikation, wie man das heute nennt, kennt viele Wege und viele Arten von Kommunikation, auch von Glaubenskommunikation. Und auch die Kirchen, Kirchgemeinden und einzelne Gläubige sind aktiv und versuchen sich Gehör zu verschaffen im Markt der Religionen.

Oft wird auf religiösen Plattformen der sozialen Kommunikationsmittel an Jesus von Nazareth und an die Urchristen erinnert. Die religiöse Erfahrung der Menschen und nicht Geschriebenes, Bibel oder Dogmen stehen im Zentrum dieser Kommunikation. Christliche Influencer und Influencerinnen erzählen von ihrem Leben, ihrer Gottesbeziehung und ihrem Handeln. «Gott hat in meinem Leben gewirkt, und wie!» das scheint mir oft deren Credo. Für Kirchen gibt das einerseits Chancen, andererseits werden sie für ihre menschlichen und institutionellen Versagen auch an den Pranger gestellt. Denn auch Übergriffe werden ungefiltert und ungeschönt erzählt und kommentiert.

Erfolg ist in den sozialen Kommunikationsmittel weniger planbar und für Kirchen auch herausfordernd. Ein theologisches Diplom oder eine kirchliche Beauftragung bedeutet noch keine Breitenwirkung in den sozialen Medien. Denn die ZuhörerInnen oder der Markt der Aufmerksamkeit entscheiden über Erfolg und Misserfolg in der Verkündigung. Wirst du gepostet, gelikt oder eben nicht.

Und in all dem ermutigen mich das heutige Tagesevangelium und die Lesung. So oder so geht es zuerst nicht um Medien und Kommunikationsmittel. Zuinnerst meint Glauben eine echte und tragende Gottesbeziehung sowie das Gebet; manchmal alleine, manchmal in Gemeinschaft. Und diese Erfahrungen können kommuniziert werden. Sei das in Worten, Schriften, sozialen Kommunikationsmitteln und vor allem in Taten.

Im Zentrum stehen Menschen und deren religiösen Erfahrungen. Zuvorderst einmal ein Jesus von Nazareth, dann viele Menschen, die glaubhaft von ihrem Glauben Zeugnis geben. Und das lieber in Taten, denn in vielen Worten. Aber eben, auch Jesus von Nazareth hat in seiner Welt durch Heilungen, Vergebungen, Versöhnungen und spannende Geschichten / Gleichnisse gepunktet. Damals und heute wird vor allem über gute und religiös motivierte Taten erzählt, sei das mündlich in der Familie, am Arbeitsplatz oder eben in den sozialen Medien. Und auch kirchlich-religiöse Menschen haben das begriffen, auch Papst Franziskus oder Bischof Joseph von Chur. Zuerst geht es einmal um gute Taten, Nächstenliebe – dies auch für eine zerbeulte Kirche.

Amen.

Wo wie wohnen?

Edito zu ITE 2023/2

Als Kind schien mir das Wichtigste in der Klause von Bruder Klaus im Ranft der Stein, das Kopfkissen zu sein. Der Ort, die Schlucht mit dem singenden Wasser, hatte auch eine grosse Bedeutung. Später wurde mir beigebracht, dass das Wichtigste dieser Klause die beiden Fenster sind. Das eine führt in die Kirche, zu Gott, das andere ist für die Menschen gemacht, die mit dem Heiligen sprechen wollten. Und heute betone ich gerne, dass diese Klause nicht weit von seinem Bauernhof entfernt ist; da wo Frau und Kinder weitergelebt und als Bauern ihr Leben gestaltet haben. Ach ja, wie war es mit dem WC?

Es geht in dieser ITE-Ausgabe um Orte, Umgebung, Einrichtung und Lebensformen. Dabei soll die Geschichte, das Nachdenken, unterschiedliche Kulturen sowie die Religion ihren Platz erhalten. Was ist Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wichtig beim «Wie, wo wohnen»? Solche Fragen sind nicht erst heute wichtig, sondern haben auch das religiöse Leben geprägt. Denken sie an Paulus, den Zeltemacher, der von Stadt zu Stadt gezogen ist. Dann die Wüstenväter und -mütter in Ägypten. In der Schweiz zogen die Benediktiner in die Berge oder in die grossen Wälder: Disentis, Engelberg, Einsiedeln oder Romainmôtier. Die Mönche – mono heisst einzig, einzeln, allein – wollten sich von der Welt zurückziehen, sammelten sich aus Sicherheitsgründen in Kolonien, Klöstern. Sie waren wirtschaftlich oft erfolgreich und es entstanden kleine Städte vor ihren Toren.

Der Ort beeinflusste nicht nur die Lebenskultur, sondern auch den Gebetsrhythmus. So kennt die katholische Liturgie nicht nur den Stadtrhythmus – das Gebet fängt abends an und geht mit Unterbruch bis in den Morgen (kennen wir vor allem von Osternacht und Weihnachtsabend) –, sondern auch den Mönchsrhythmus vom Morgen bis am Abend. Gefühlsmässig beginnt wohl für die meisten von uns der Tag am Morgen und endet am Abend. Bei Jugendlichen, am Wochenende oder in der Fasnachtszeit, werden wohl einige vom Abend bis am Morgen leben. Spannende Lektüre wünsche ich Ihnen.

Islam inkulturiert

Auferstehungsgottesdienst Adjut Mathis, Joh 14,1-6

Welch ein wunderbares Tagesevangelium uns heute begleitet! «Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen». Eine davon gehört nun Adjut. Und Jesus selbst hat diese Wohnung dem Adjut vorbereitet. Welch ein Bild für den heutigen Tag!

Adjut lebte sowohl in der Schweiz wie auch in Indonesien. Er wusste, dass Kulturen unterschiedlich sind und hat das ernst genommen. Als ich 2001 von Rom nach Rapperswil kam, lebten wir beide in derselben Gemeinschaft. Wir hatten eine spezielle Gemeinsamkeit – am Sonntagabend schauten wir beide eine Schweizer Serie im Fernsehen, um damit Schweizer Kultur kennen zu lernen und zu vertiefen. Adjut schaute mit dem missionarischen Blick und ich mit den Augen eines Film-Analysten. Beide wollten wir wissen, was sind im Moment die Themen und die Antworten der hiesigen Menschen, der Schweizer Kultur.

Und dabei erzählte Adjut mir vom «Buch» von Clifford Geertz (Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988. ISBN 3-518-58091-4), und ich habe es mit grossem Gewinn gelesen. Der Titel ist: «Religiöse Entwicklungen im Islam. Beobachtet in Marokko und in Indonesien.» Es ist eine ethnologische Untersuchung und zeigt die Vielfalt muslimischer Entwicklungen und Inkulturationen auf. Denn auch der Islam hat sich in die jeweiligen Kulturen integriert und deren kulturelle Form beachtet und integriert.

So ist die grosse marokkanisch-islamische Identifikationsfigur ein umtriebiger Freiheitskämpfer, der sich für Gerechtigkeit und für die Armen eingesetzt hat. Fast etwas wie der englische Robin Hood, stelle ich mir vor. Und dieser hat den Islam in Marokko ursprünglich heimisch gemacht und geprägt.

Mit über 191 Millionen Muslimen ist Indonesien der Staat mit der grössten muslimischen Bevölkerung weltweit. Und in Indonesien sieht die muslimische Identifikationsfigur ziemlich anders aus als in Marokko. Der indonesische muslimische Glaubensverkündiger war ein stiller, meditativer Mensch, der sich an einem Fluss – ich war beim Lesen an Bruder Klaus oder einen buddhistischen Mönch erinnert – zurückzog und lange Zeit meditierte, bis er aus der Stille für den Islam zu wirken begann und grossen Erfolg hatte. Vielleicht auch etwas ein Mensch, wie Adjut es war. Adjut liebte die Stille und Gebet sehr.

Bruder Adjut war ein fundierter Missionar, er kannte und lebte seinen Glauben, wusste aber auch um dessen Ausprägung an unterschiedlichen Orten. Solches Wissen tut auch uns Schweizer und Schweizerinnen gut. Haben wir doch auch eine sehr helvetische Ausprägung unseres Christentums. Das erlebte ich am Ranft mit meinem Mitbruder André Izbachalla aus dem Libanon.

Der Bibel-Spezialist spricht dieselbe Muttersprache wie Jesus, nämlich aramäisch. Wir starteten unseren Weg in Sachseln, betrachteten die fünf Visionen des Bruder Klaus, und liefen nach Flüeli Ranft. Unterwegs erklärte ich André begeistert die Visionen des Bruder Klaus. Mit Bruder Klaus kann ich religiös warm werden. Da finde ich spirituelle Heimat. Bei André hatte ich einen anderen Eindruck. Er wurde kühler und meinte am Schluss, das ist doch kein Christentum. Das ist germanischer Paganismus. Er wisse gar nicht, was dieser Bruder Klaus mit Jesus von Nazareth gemein habe. Zum Glück konnte ich André darauf hinweisen, dass Bruder Klaus im Jahre 1947 heiliggesprochen wurde und so zumindest als echter vorbildlicher helvetischer Katholik gelten darf.

Welches war der religiöse Stil von Bruder Adjut? Er war ein verbindender und wirksamer Prediger. In der Schweiz bedeutete das für den Indonesienmissionar Verständnis für die indonesische Kultur zu fördern und Geld für seine Gemeinden und Projekte zu sammeln. In Indonesien hiess das Menschen für Jesus Christus zu motivieren und Pfarreien aufzubauen. Mit Leib und Seele.

Dabei war eines seiner besonderen Merkmale, die Art und Weise der Fortbewegung, seine Geh-Seelsorge würde man heute sagen. Adjut brach auf, um zu den Menschen zu gelangen. Hier in der Schweiz bedeutete dies nach dem schweren Unfall mit dem Auto unterwegs zu sein. Sei das zu Pfarreien rund ums Kloster Rapperswil oder zur indonesischen Gruppe Harapan, die ihm sehr am Herzen lag. Doch am meisten lachen musste ich, als ich ein älteres Foto mit Adjut aus Indonesien zugeschickt bekam. Da sitzt Adjut auf einem Motorrad, auf dem Rücken ein hölzernes Gestell, das man in der Schweiz für den Käsetransport braucht. Doch war da kein Schweizer Käse darauf befestigt, sondern ein Velo!

Adjut erklärte mir, dass er in Indonesien, soweit es ging mit dem Töff gefahren ist. Wenn er mit diesem nicht mehr weiterkam, radelte er oder wanderte zu den Menschen. Oft wanderte er aufwärts und fuhr mit dem Velo wieder hinunter zum Töff, um zum nächsten Einsatzort zu gelangen. Das war Einsatz mit allen Mitteln. Indonesisches Mountain Biking, bevor es in der Schweiz Mode wurde.

Lieber Jesus, ich weiss ja nicht, ob Adjut da stets in seiner himmlischen Wohnung zu finden ist. Ich könnte mir gut vorstellen, dass er ab und zu unterwegs ist. Und im heutigen Tagesevangelium sagst du: «Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben.» Und auf diesem Weg vermute ich Adjut. Amen.

Barmherzigkeit erweisen

Sonntag der Barmherzigkeit; 1. Petrus 1,3-9; Joh 20,19-31

«Selig sind, die nicht sehen und doch glauben» sagt Jesus im Johannes-Evangelium. Gehören Sie, liebe Menschen, zu den Seligen oder zu den ungläubigen Thomassen? Nun, bei mir hat es sich wohl etwas verändert. Mit dem Alter bin ich ruhiger und vorsichtiger geworden. Ich erinnere mich, als ich als junger Mann mit einer Psychologin telefonierte. Sie fragte mich plötzlich: «Sind Sie Theologe?». Etwas verdattert antwortete ich «Ja». Und fragte, wieso sie auf diese Frage komme. Sie meinte, dass Theologen stets nach dem «Warum?» fragen. Sie versuchen den Glauben zu verstehen. Ertappt also.

Als Theologe habe ich Vieles an Glaubens-Wissen gelernt, doch auch gemerkt, dass Glauben und Glaubenswissen nicht dasselbe ist. Glaubens-Wissen ist rational und nüchtern. Der schwärmerische Glauben war und ist nicht meine Sache. Ja, allzu kurze und bestimmte Glaubens-Bekenntnisse stossen mich ab. Die Andersartigkeit Gottes und Sein Geheimnis müssen für mich gewahrt bleiben. Gott ist kein Gegenstand, den man besitzen und wissen kann!

Der Apostel Thomas ist kritisch, aber er verweigert sich dem Glauben nicht. Er sagt nicht vorschnell, «Gott gibt es gar nicht» oder einfach «Jesus ist nicht auferstanden». Aus einer Nicht-Erfahrung kann und will er kein Nicht-Möglich machen. Er überlegt und formuliert, was er bräuchte, damit er Jesu Auferstehung glauben könnte. Interessanterweise will er keinen Heiligenschein, kein Wunder sehen, sondern die Wunden des Gekreuzigten. Nicht etwas Jenseitiges, himmlisches, sondern etwas ganz Irdisches, echt menschliches: «Wenn ich nicht das Mal der Nägel und meine Hand nicht in seine Hände lege, glaube ich nicht», sagt er.

Nicht irgendetwas fantastisches, schwärmerisches, weltfremdes, billiges wird Theologen, Realisten und nüchternen Menschen angeboten. Im Gegenteil, der Blick auf Leid, auf Ungerechtigkeit lässt den Glauben wachsen. Mit dem Blick auf Wunden, Schmerz wird das Leben echt und tiefgründend. Da muss nichts beschönigt werden. Jesus von Nazareth hatte schon in seinem Wirken diesen speziellen Blick. Darum konnte er in seinem Leben Wunden heilen und Schuld vergeben, versöhnen. Es stimmt, Jesu erstes Wunder war das Wandeln von Wasser in Wein. Feiern und glücklich sein konnte Jesus auch. Trotzdem, die Evangelien erzählen nicht primär vom Feiern, sondern von Jesu Blick für das Verwundete, Verletzte, Gestörte, sowie von seinem heilvollem Handeln und Wirken in seiner Umgebung.

Für viele Menschen ist der Glaube vermutlich eine innere Gewissheit, die langsam wächst. Ich erinnere mich an einen Buchtitel, der hiess: Glaube ist eine Pflanze, die wächst. Und dieses Glaubens-Wachsen begleitet mich seit meiner Jugend. Und es gibt Momente, wo ich richtig glücklich bin, festzustellen, dass auch mein Glaube in all den Jahren gewachsen und gediehen ist. Alles Gnade!

Diese Sichtweise lernte ich bei Franz von Assisi. Sein stetes Gehen zu den Aussätzigen vor der Stadt, liess ihn zum Glauben, zum inneren Wandel seines Herzens finden.

Franziskus schreibt in seinem geistlichen Testament:

So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu beginnen: denn als ich in Sünden war, kam es mir sehr bitter vor, Aussätzige zu sehen. 2Und der Herr selbst hat mich unter sie geführt, und ich habe ihnen Barmherzigkeit erwiesen. 3Und da ich fortging von ihnen, wurde mir das, was mir bitter vorkam, in Süßigkeit der Seele und des Leibes verwandelt. Und danach hielt ich eine Weile inne und verließ die Welt.

Franz von Assisi, Testament

Die Umkehr «in Süßigkeit der Seele und des Leibes» gelingt dem Heiligen durch seine Begegnungen mit den Aussätzigen seiner Zeit. «Barmherzigkeit erweisen» nennt er seine Art des Heilens und Vergebens. Durch sein Tun und Leben wird Franziskus fähig eine begrenzte Weltsicht zu verlassen und gewandelt. Auch uns wünsche ich in dieser Osterzeit diese stete Wandlung in Gott hinein. Dies mit offenen Sinnen für die Not unserer Mitmenschen, unserer Mitwelt, mit tätigen Händen und liebendem Geist für alle Not um uns herum, damit wir die Enge unserer kleinen, begrenzten und ängstlichen Welt verlassen und uns öffnen für das österliche Heil und Leben, für die «Süßigkeit der Seele und des Leibes». Amen.

Erstaunt und verblüfft

Predigt zu Ezechiel 37,1-14; Johannes 11,1-45

Jesus erstaunt und verblüfft: «6 Als Jesus nun hörte, dass Lazarus krank sei, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er war», so hörten wir eben im Johannes-Evangelium. Hat er denn nicht mehr Mitgefühl mit dem kranken Lazarus und seinen beiden Schwestern, Maria und Marta? Müsste er nun sein Predigen und Wirken nicht liegenlassen und zu Lazarus aufbrechen und heilen?

Doch auch Gott erstaunt und verblüfft: «und mitten in der Ebene liess er mich nieder, und diese war voller Gebeine», erzählt uns Ezechiel. Das Bild von der über die Ebene zerstreuten menschlichen Gebeinen erinnert an ein ehemaliges Schlachtfeld. Auch wir werden heute an aktuelle Schlachtfelder erinnert. Und wie wünschen wir uns, dass Gott eingreifen, Gerechtigkeit schaffen und Frieden stiften würde. Doch war das auch vor gut 2500 Jahren nicht so. Gott tat nichts. Die Menschen, Gottes erwähltes Volk ist auf offenem Feld gestorben und nicht einmal begraben worden. Die Knochen liegen immer noch auf der Erde herum. Ein erschreckendes Bild von Auflösung, Zerfall und Tod. Und Gott?

Doch jetzt viele Jahre später ergreift Gott im Buch Ezechiel die Initiative und lässt den Propheten handeln. Gott spricht: «Seht, ich lasse Geist in euch kommen, und ihr werdet leben. 6 Und ich gebe euch Sehnen und lasse Fleisch wachsen an euch, und ich überziehe euch mit Haut und lege Geist in euch, und ihr werdet leben, und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin.» Viele Jahre nach dem Tod auf dem Schlachtfeld gibt Gott Sehnen, Fleisch, Haut und Geist zurück. Die Toten leben wieder. Gott scheint Zeit zu haben. Ohne Stress!

Fazit: Schon im Buch Ezechiel wird die Zerstörung, der Tod nicht verhindert, sondern von Gott in Kauf genommen. So prahlt der assyrische König Sanherib um 700 vor Christus laut einem Schlachtbericht, er habe die Ebene mit den Leichen (feindlicher) Krieger gefüllt wie Gras. Da greift Gott / Gottes Gerechtigkeit nicht ein, viele Jahre später schenkt Gott das Leben wieder. Diese Vision konnte sogar historisch infolge der toleranten Religionspolitik des persischen Königs Kyros dem II., im sechsten Jahrhundert vor Christus historische Wirklichkeit werden. Da haben plötzlich Menschen mitgewirkt.

Wie ist Ezechiel zu verstehen? Wie zu deuten? Gott verhindert Unglück, Unrecht, Tod nicht, aber er erweckt später zum Leben, einem Leben in Gerechtigkeit und Fülle. Gott handelt anders, als wir Menschen wünschen, aber er handelt und schenkt den elend Gestorbenen Leben.

Auch Jesus springt im heutigen Tages-Evangelium nicht nach Betanien. Er lässt Lazarus sterben, so dass der Leichnam dann «stinkt», wie die Bibel erzählt. Lazarus war tot, am Verwesen. Und für uns verständlich sagt Marta zu Jesus: «Herr, wärst du hier gewesen, so wäre mein Bruder nicht gestorben.» Ja, solches am Leben erhalten hätte ich von Gott, respektive Jesus auch erhofft. Da geht es mir ähnlich wie Marta. Jesus handelt anders. ER lässt seinen Freund sterben.

Wieso?

In den beiden besprochenen Texten finde ich drei Antworten fürs Warten lassen: 1) Gottes-Erkenntnis, 2) Verherrlichung Gottes und 3) Glauben.

  1. Gottes-Erkenntnis: «Und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin, wenn ich eure Gräber öffne und euch, mein Volk, aus euren Gräbern steigen lasse. 14 Und ich werde meinen Geist in euch legen, und ihr werdet leben, und ich werde euch auf euren Boden bringen, und ihr werdet erkennen, dass ich der HERR bin», lesen wir im Buch Ezechiel.
  2. Verherrlichung Gottes: Erst im Angesicht des Todes, des Verfalls, des Schweren kann der leben-spendende Geist Gottes, seine Lebens-Kraft zeigen und verwirklichen. Erst in Konkurrenz zum Bösen, Schlechten kann das Gute gesehen werden, Gottes Wirken sich manifestieren. «Diese Krankheit führt nicht zum Tod, sondern dient der Verherrlichung Gottes; durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden», lässt das Johannes-Evangelium Jesus sagen.
  3. Glauben: «Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben.» Oder «Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen?» Oder «Ich habe es gesagt, damit sie glauben, dass du mich gesandt hast.»

Liebe Glaubende, was nehme ich mit von diesen beiden Texten? Ich nehme wahr, auf unserer Welt gibt es neben Leben und sonnigen Seiten, auch Krankheit, Krieg, Konflikte, Zerstörung und Tod. Die beiden Bibelstellen zeigen mir einen Gott, der solche Schattenseiten nicht verhindert, später aber wieder mit Leben füllt. Gott, beziehungsweise sein Handeln, seine Motive bleiben mir verborgen – die drei biblischen Begründungen überzeugen mich wenig. Marta’s Vorwurf verstehe ich gut. Viele Fragen bleiben offen. Aber Hoffnung lebt. Gott erstaunt und verblüfft, er ist anders, Gott, nicht Mensch.