Nach zwei Jahren Guardian in Luzern und acht Jahren Guardian in Rapperswil darf ich nun dieses Amt weitergeben. Allen Geschwistern und Menschen einen herzlichen Dank für ihre jahrelange Unterstützung! Zum Abschluss hatte ich Lust in einem Gottesdienst den Tisch des Wortes zu bereiten. Das Tagesevangelium stellt Fragen und war eine schöne Herausforderung, die mich die letzten Monate begleitet haben. Im Folgenden meine Worte.
Lied
Kanon: Ich
will dir danken, weil du meinen Namen kennst, Gott meines Lebens.
Ansprache
Liebe
Gottesdienstbesucher und -besucherinnen
Wer ist ein
Christ? Können Agnostiker und sogar Atheisten Christen, Christinnen sein?
Diesen
Sommer habe ich Artikel einer Tagung zum Thema RELIGIÖSE IDENTITÄT UND
ERNEUERUNG IM 21. JAHRHUNDERT; JÜDISCHE, CHRISTLICHE UND MUSLIMISCHE
PERSPEKTIVEN gelesen. Darin schreibt der amerikanische Jude Anson Laytner:
«Eine
Umfrage unter amerikanischen Juden lieferte folgende Ergebnisse: 22 % der
Teilnehmer bezeichneten sich als „nicht religiös“, und die Mehrheit hielt
Religion nicht für ein primäres Merkmal der jüdischen Identität. Für 62 %
basierte ihre jüdische Identität auf Abstammung und Kultur, während nur für 15 %
die Religion die Grundlage bildete. Von den Juden, die das Judentum als ihre
Religion angaben, sahen trotzdem 55 % in Abstammung und Kultur die Basis ihrer
jüdischen Identität und 66 % hielten den Glauben an Gott nicht für eine
unabdingbare Voraussetzung für die jüdische Identität.» Anson Laytner folgert: «Juden
können Agnostiker und sogar Atheisten sein und sich dennoch selbst als Juden
sehen».
Und wie
steht das mit uns Christen? Nach der Reformation in Europa hiess es: «Cuius
regio, eius religio». In
Deutsch also «wessen Gebiet, dessen Religion». Der Herrscher eines
Landes ist berechtigt, die Religion für dessen Bewohner vorzugeben. Ist dem
heute ganz anders? Sind wir selbstbestimmt? Als Kind liessen mich meine Eltern
taufen, schickten mich in den Religionsunterricht und sozialisierten mich
römisch-katholisch. Sehr wahrscheinlich müssen die meisten unter uns sagen:
Meine Eltern, die Schule und die konkrete Kirche haben mir die christliche
Religion und die römisch-katholische Konfession auf den Weg gegeben.
Ist das
schlecht oder falsch? Es lässt sich dies auch von religiösen Grössen sagen. Jesus
von Nazareth ist dank seiner Geburt Jude und dann von seinen Eltern
entsprechend sozialisiert worden. Die Bibel erzählt davon. Dasselbe gilt von
Franz von Assisi. Was wäre Franz geworden, wenn er in einer jüdischen,
muslimischen, hinduistischen oder buddhistischen Familie geboren wäre? Wir
bewegen uns hier im Bereich der uns gegebenen, extrinsischen, familiären
Religiosität.
Vor allem
Menschen in Freikirchen sagen manchmal: Am 24. September 1983 ist mir Jesus
begegnet. Seither bin ich Christ. Liebe Gottesdienstteilnehmer und
-teilnehmerinnen. Das kann ich von mir nicht behaupten. Ich habe in meinem
Leben Momente erlebt, da ich von Gottesnähe sprechen würde. Aber eine Anweisung
zum Christsein bekam ich keine, weder von Jesus, noch von einem Engel, noch von
Gott selber. Ist das schlimm?
Menschen,
die sich mit Mystik beschäftigen, haben mit Franz von Assisi ein Problem. Der
religiöse Virtuose Franziskus kann in seinem Leben keine mystischen Erlebnisse
vorweisen. Auf die Stigmata kurz vor seinem Tod und ihre Historizität kann ich
hier nicht eingehen. Und trotzdem, die Jesusnachfolge war Franziskus sehr
wichtig. Die Evangelien hat er eingehendst studiert und ist in den Fuss-Stapfen
Jesu gewandert.
Aber eines
hatte Franziskus – und das betont heute besonders die Religionspädagogik.
Franziskus hatte viele Fragen und hat sich mit diesen persönlichen Anliegen
Tage, ja Wochen in die Stille zurückgezogen. Mein Mitbruder und
Franziskusforscher Niklaus Kuster sagt: «Gegen Ende seines Lebens hat sich
Franziskus im Jahr um die zweihundert Tage in die Einsiedeleien zurückgezogen».
Da hat der Heilige gebetet, meditiert und seine Fragen und Sorgen vor Gott
hingetragen.
Der
amerikanische Religionspsychologe Kenneth Pargament nennt neben dem extrinsisch
und intrinsisch orientierten Glauben die religiöse «Fragen-Orientierung». Darin
steht die Komplexität des Glaubens, die Vorläufigkeit und der Zweifel im
Vordergrund.
So würde ich
heute zusammenfassend sagen, mein Glaube wurde mir von meinen Eltern, Schule
und Kultur extrinsisch gebildet, durch die Nähe Gottes intrinsisch gestärkt und
durch stets neues Fragen und Suchen am Leben erhalten. Mein Glauben lebt dank
den Fragen und Widersprüchen. Und diese gilt es auszuhalten!
Liebe
Gottesdienstbesucher und -besucherinnen. Man könnte ja einwenden, für uns
Christen gibt es die Bibel und somit ist alles klar. Ist dem so einfach? Nein,
ich denke nicht. Ansonsten müssten wir heute unser Tagesevangelium aus dem
Matthäusevangelium streichen. Auch hier, Widersprüche und offene Fragen!
Tagesgebet
Gott, der du uns alle bei Namen kennst und liebst,
in deinem Sohn bist du Mensch geworden, hast geheilt und
versöhnt,
dich aber auch für Gerechtigkeit und Frieden eingesetzt.
Steh du uns bei in unserem Handeln, dass wir genau
hinschauen,
Ungerechtigkeit benennen und uns für den Frieden einsetzen.
Darum bitten …
Evangelium
15 Wenn dein
Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht!
Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.
16 Hört er
aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei mit dir, damit die ganze Sache
durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werde.
17 Hört er
auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde! Hört er aber auch auf die
Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.
18 Amen, ich
sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel
gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im
Himmel gelöst sein.
19 Weiter
sage ich euch: Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig erbitten, werden
sie von meinem himmlischen Vater erhalten. 20 Denn wo zwei oder drei in meinem
Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen. Mt 18,15-20
Predigt
Liebe Brüder
und Schwestern
Da bin ich
aber nun erstaunt. Hallo Matthäus, was ist denn da los? Gläubige zum Judentum
oder aus der Kirche hinauswerfen? Das geht doch gar nicht!
Der eingangs
zitierte amerikanische Jude Anson Laytner hält in seinem Artikel fest, dass das
Judentum nicht primär eine Religion bezeichnet, sondern ein Volk, für gläubige
Juden das Volk Gottes. Im orthodoxen und im konservativen Judentum ist Jude,
wer eine jüdische Mutter hat. Jude Sein ist unverlierbar wie auch mein
Schweizer sein. Den Schweizer Pass kann mir niemand nehmen.
Römisch-katholischer
Christ bin ich, weil ich getauft bin. Und das kann mir auch niemand nehmen,
nicht einmal ein Papst. Gut, es gibt pädagogische Strafmassnahmen in der
katholischen Kirche. Hans Küng wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Verheiratete
Priester dürfen nicht mehr Messe feiern. Und machen sie es trotzdem, dann
heisst es kirchenrechtlich korrekt: gültige Messfeier, aber unerlaubt. Anderen
wird die Kommunion verboten. Doch ein Rauswurf aus der Kirche gibt es nicht.
Doch muss
man differenzierter hinschauen. Ausschlüsse gibt es bei religiösen Gruppen und
Sekten, aber nicht bei Völkern oder bei Grosskirchen. Ich gehe davon aus, dass
einige Freikirchen im Zürcher Oberland den Ausschluss aus der Gemeinschaft
kennen.
Persönlich
kenne ich Menschen aus dem Emmental, die aus ihren Täufer Gruppen
ausgeschlossen wurden. Da ist eine Frau, die als Kind ihren Bruder nicht mehr
sehen durfte, weil die Ältesten ihn aus der Gemeinde ausgeschlossen hatten. Im
Judentum gibt es ähnliche Kleingruppen. So habe ich den Roman «Überbitten»
gelesen. Da erzählt eine junge amerikanische Jüdin von ihrem Ausschluss aus
ihrer Gemeinschaft. Okay. Sie selber betrachtet sich noch immer als Jüdin – und
ist es ja auch.
Wieso nimmt
nur der Evangelist Matthäus die Gemeinderegel in sein Evangelium auf und pocht
auf den Ausschluss von Gemeindemitgliedern? Und das erst noch nachdem er im
Evangelium vorher vom Hirten erzählt, der das verlorene Schaf sucht und alle
anderen Schafe stehen lässt. Und die unserem Textabschnitt folgende Jesusgeschichte
erzählt, dass man 77mal vergeben soll. Was ist hier los, Matthäus? Denken wir
daran, Jesus wurde von den Römern gekreuzigt, er hatte Probleme mit seinen
religiösen jüdischen Obrigkeiten, doch kein Jude kam 30 nach Christus auf die
Idee, Jesus von Nazareth aus dem Judentum auszuschliessen. Maria, seine Mutter
war ja Jüdin mit einer wunderbaren jüdischen Abstammungslinie. Okay, es waren
die Römer, die vom König der Juden sprachen, doch Jesus wurde als Jude
gekreuzigt.
Der
Evangelist Matthäus ist Judenchrist, d.h. immer noch Jude, aber auch Christ,
und vertritt eine weisheitliche Theologie des sogenannten «do ut des»; ich gebe
und darum gibst du mir. Dies ganz im Unterschied zu einem Evangelisten Lukas
oder ich würde auch meinen zu einem Jesus von Nazareth. Bei Matthäus gibt es
Vergebung nur mit Gegenleistung. Wir kennen die Bibelstelle vom Vater unser, wo
bei Matthäus der Vater nur vergibt, wenn auch wir vergeben. Das Lukasevangelium
kennt solche Bedingungen nicht. In der Theologiegeschichte geht es hier um die
Frage der teuren und billigen Gnade.
Doch wieso
den Ausschluss aus der Gemeinde bei Matthäus? Da müssen wir wie heute auch auf
die kleinen Gruppen Bezug nehmen. In der Zeit vor und nach der Zerstörung des
Tempels um 70 nach Christus zerfällt das Judentum in kleine sich konkurrierende
Gruppen. Alle wollten die wahren Juden sein. Die Essener kannten zu dieser Zeit
den Ausschluss unwürdiger Mitglieder. Die Gemeinde von Qumran kannte den
Ausschluss, wie in ihrer Regel nachzulesen ist. Aber auch die pharisäische
Genossenschaft kannte eine Ausschlussmöglichkeit. Und für den Judenchristen
Matthäus besonders ärgerlich, das pharisäische Judentum, das aus den Wirren in
dieser Zeit als das rabbinische Judentum weiterlebte, hat am Konzil von Jaffna,
65 nach Christus, die Judenchristen aus dem Judentum ausgeschlossen. Sie
sagten: «Man kann nicht Jude sein und an den Messias Jesus von Nazareth glauben».
Echte Juden warten noch auf den Messias! Und so entsteht in einem langsamen
Prozess bis etwa 90 nach Christus das Christentum als eigene
Religionsgemeinschaft, das sich auch selbst nicht mehr übers Judentum definiert.
Nun, liebe
Brüder und Schwestern, wie gehen wir heute mit diesem Text um. Was könnte er
uns heute sagen? Die Bibelwissenschaft kennt vier Grundtypen von
Erklärungsmöglichkeiten. Der vierte Grundtyp, d.h. Gegensätze stehen lassen und
zu offenen Fragen zu stehen, den favorisiere ich persönlich, wie ich schon zu
Beginn dieses Gottesdienstes gezeigt habe. Doch möchte ich hier in der Predigt einen
pädagogischen Ansatz für die Deutung aufgreifen, wie er auch schon in der Zeit
nach der konstantinischen Wende, ab dem 4. Jahrhundert in Mode kam. Der Text
gilt dann als Erziehungsmassnahme und nicht als Aussage über Gottes
Barmherzigkeit oder Vergebung. Und tönt dann konkret in meinen Worten so:
Lieber Leute
- Es
kann ja sein, dass wir 77mal vergeben sollen, doch schauen wir bei Priestern,
Ordensleuten und Jugendarbeitern, die Knaben pädophil missbrauchen nicht weg. Das
darf es nicht geben.
- Es
kann ja sein, dass wir 77mal vergeben sollen, doch schauen wir bei
Arbeitgebern, die den Frauen 10% weniger Lohn bezahlen nicht weg. Das ist
ungerecht und wollen wir nicht.
- Es
kann ja sein, dass wir 77mal vergeben sollen, doch schauen wir nicht weg, wenn
weisse Menschen sich als Überrasse sehen und Menschen anderer Hautfarbe
diskriminieren. Sie haben dieselbe Würde wie wir.
- Es
kann ja sein, dass wir 77mal vergeben sollen, doch schauen wir hin, wenn
Menschen in unserer Umgebung geplagt und gemoppt werden. Das ist unfair.
- Es
kann ja sein, dass wir 77mal vergeben sollen, doch … ihr kennt wohl noch einige
solche Beispiele, wo wir hinschauen und nicht wegschauen wollen.
Doch kennt
der Evangeliumstext von Matthäus nicht nur den Drohfinger, sondern er ermutigt
uns hier und jetzt zu beten: «Was auch immer zwei von euch auf Erden einmütig
erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten».
Das Gebet
von Christoph Oetinger als Fürbitten
Gib mir Gott
die Gelassenheit Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann.
A: Wir
bitten dich erhöre uns.
Gib mir Gott
den Mut Dinge zu ändern, die ich ändern kann.
A: Wir
bitten dich erhöre uns.
Gib mir Gott
die Weisheit das eine von dem andern zu unterscheiden.
A: Wir
bitten dich erhöre uns.