Extreme Armut und Menschenrechte

Predigt vom 25. September 2022, Am 6,4-7; Lk 16, 19-31

Liebe besorgte und vielleicht auch verunsicherte Menschen
Für unsere Kapuziner-Zeitschrift ITE durfte ich in den letzten Tagen ein Interview mit Sandra Epal-Ratjen machen. Die Juristin arbeitet für Franciscans International in Genf bei den Vereinten Nationen und beschäftigt sich besonders mit dem Leitfaden zu extremer Armut und Menschenrechten, wie ihn die UNO vor zehn Jahren verabschiedet hat. Dieses Jahr ist das zehnjährige Jubiläum und es kann einiges gefeiert werden. Denn, vor allem bis Corona, konnte weltweit einiges erreicht und verbessert werden. Die Anzahl der Menschen, die in extremer Armut leben, konnte markant verringert werden. Corona hat die Entwicklung leider behindert und verhindert.

Was ist extreme Armut? Besser, welche Faktoren führen da hinein? Der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Arjun Sengupta, kennt drei konstitutive Merkmale von Armut:
– Geringes Einkommen,
– geringe Entwicklungschancen
– sowie soziale Ausgrenzung.

Um Menschen aus extremer Armut befreien zu können, muss ihnen also ein gutes Einkommen, persönliche Entwicklungschancen und soziale Integration ermöglicht werden. Und das bedeutet auch Menschenrechte einzufordern und durchzusetzen. Zum Beispiel auch ein Recht auf Bildung. Oft kennen extrem arme Menschen ihre Rechte nicht und können diese nicht einfordern. Deshalb begleitet die Juristin Sandra Epal-Ratjen in ihrer Freizeit Menschen auf ihren Behördengängen.

Als Sandra mir von Amtsstuben erzählte, kam mir mein Studienbeginn in Rom in den Sinn. Die Mühlen von Universitäten sind exakt und herausfordernd. Und dies alles in fremder Sprache. Zum Glück gab es erfahrene Mitbrüder, die mir einiges regelten und gute Tipps für die Anmeldungen an der Uni sowie für das Leben in Italien gaben. Eine Erfahrung, die wohl auch Menschen in der Schweiz heute machen, wenn sie von uns Einheimischen unterstützt werden. Meine Mutter hat ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und mir davon erzählt, wie anspruchsvoll die Behörden in der Schweiz sind. Als Politikerin hatte sie oft mit Behörden zu tun und ich male mir aus, wie sie da ihre ukrainischen Gäste begleitet hat. Ihre Erzählungen und Amts-Erfahrungen waren jedenfalls spannend! Sandra Epal-Ratjen erzählte mir von Menschen von überall auf der Welt, die sich so für Arme einsetzen. Ich durfte diese Erfahrung in Kenia machen, wo sich Brüder in den Slums für Rechtlose wehren (Vgl. Bild).

Schon das Buch Amos lädt uns intensiv zur Hilfe und Integration von Armen ein: «Das Fest der Faulenzer ist vorbei!» ruft uns der Prophet zu. Seid nicht zu sorglos und zu selbstsicher! Ihr habt eine Verantwortung, wenn andere Leiden und Untergehen. Auch der Evangelist Lukas betont die Verantwortung im Leben. Unser Handeln kann nach der Erzählung vom Reichen und von Lazarus nicht in die Zukunft oder sogar in den Himmel verschoben werden. Es sind diese beiden Texte zwei eindrückliche Zeugnisse für unsere von Gott gegebene Verantwortung für unsere Nächsten, für arme Menschen. Aufforderung zum Einsatz gegen Armut und Rechtlosigkeit!

Und trotzdem, liebe GottesdienstbesucherInnen, möchte ich an dieser Stelle auf das Buch Factfullness hinweisen, das 2018 – also noch vor Corona – publiziert wurde. Und darin werden Fakten aufgezählt, dass die Welt auch gut ist und sogar besser geworden ist. Zum Beispiel:

  • Wussten Sie, dass 60% der Mädchen aus Entwicklungsländern eine Grundschule besucht haben? Tendenz steigend.
  • In den letzten zwanzig Jahren, vor 2018, hat sich der Anteil der Menschen, die in extremer Armut leben, halbiert. Nicht schlecht!
  • Die Lebenserwartung weltweit ist bei 70 Jahren. Hätte ich nicht geahnt.
  • 80% der Kinder weltweit werden geimpft. Die Überlebens-Chancen steigen also.
  • 90% der 30jährigen Frauen waren 9 Jahre in der Schule, Männern 10 Jahre in der Schule. Ein Jahr länger. Doch gibt solche Bildung Hoffnung für die Zukunft.
  • 1996 galten Tiger, Riesenpandas und Spitzhorn-Nashörner als stark vom Aussterben bedroht. Die Bedrohung dieser Tiere ist zurückgegangen.
  • 80 Prozent der Menschen der Welt haben heute Elektrizität zur Verfügung. Das ist vor allem wichtig zur Verbesserung der Bildungschancen. Man kann auch bei Dunkelheit noch arbeiten.
  • Vgl. dazu: https://wachstumstracker.de/factfulness-quiz/

Es ist klar, dass extreme Armut noch nicht verschwunden ist und dass immer noch Menschen auf ihre Menschenrechte warten – und wir bleiben in der Verantwortung sind. Die oft kurzfristigen Bad News der Medien sind zwar wichtig, doch nicht die ganze Wahrheit. Es ist einiges besser geworden in den letzten Jahrzehnten. Und so dürfen auch wir mit den Vereinten Nationen feiern, dass einiges besser geworden ist! Und eingeladen sind wir an unserem Ort, uns und in der Welt für bessere Bedingungen einzusetzen. Amen.

Missionskalender 2023

Edito: Das Leben hat seine wunderschönen Seiten, doch fühlen und erleben wir manchmal seine Verletzlichkeit. Lebens-Stürme können uns zusetzen und die Freude sowie den Mut nehmen. Man möchte dem Leiden ausweichen, so gut es geht. Doch gehören offene Fragen, Krankheiten, Verletzungen zu unserem Leben. Wir können ihnen nicht entkommen. In solchen Situationen fühlen wir, ob unser Boden trägt oder nicht.

Matthäus kennt ein Gleichnis vom Hausbau (Mt 7,24-27). Dabei unterscheidet Jesus bildlich zwei Situationen. Man kann ein Haus auf Felsen bauen oder eben auf Sand. Nach dem Bau stehen beide Häuser und können bezogen werden. Es scheint beiden Häusern gut zu gehen, doch unerwartet kommen Regen und Wind, Unwetter; das Haus im Sand stürzt ein und wird unbewohnbar.

Jesus warnt mit diesem Gleichnis von falschen Propheten und lädt uns ein auf ihn zu hören, gute Früchte zu bringen. Der Verfasser des zweiten Briefes an Timotheus kennt die Herausforderungen des Lebens und verweist auf das «Fundament Gottes». Wer auf Gott baut, der/die darf wissen, dass er/sie von Gott gekannt wird und zu IHM gehört. Er/sie meidet dann aber auch das Unrecht und setzt sich für das Leben, für die Gerechtigkeit und den Frieden ein.

… Ich verstehe den Missionskalender der Schweizer Kapuziner dieses Jahr als eine stete Einladung, uns jeden Tag wieder neu auf unsere Fundamente des Lebens zu besinnen und dann allein und mit anderen begeistert am Reich Gottes mitzubauen. Und vielleicht sind die Termine, die sie in ihm eintragen, ein steter hoffentlich freudiger Aufbruch in das Land des Friedens und der Liebe. Und vielleicht tragen Sie sich ja ab und zu einen Stille-Moment oder ein Verweilen in der Natur darauf ein. Ein tragendes 2023 wünsche ich Ihnen.

Hier kann der Kalender bestellt werden.

Ausgleich, nicht Umsturz

Predigt zu Maria Himmelfahrt, Lk 1,19-56

Liebe Gottes-Jublerinnen, -Jubler
Vor dreissig Jahren, am 8. September 1992, legte ich mit fünf weiteren Novizen im Kapuzinerkloster Solothurn meine einfache Profess ab. Damals wünschten wir Novizen vom Prediger eine Auslegung zum Magnifikat – wie wir es heute im Tages-Evangelium gehört haben. Doch höre, lese und verstehe ich diesen marianischen Lobgesang heute anders als bei meinem Ordenseintritt.

Vor dreissig Jahren war ich voll Tatendrang und wollte die Welt verändern und verbessern. Im Kopf sprudelten die Welt-Veränderer-Predigten und -Taten nur so dahin. Die Kapuziner waren die Gemeinschaft, mit der ich diesen Umsturz tun wollte, und mit den Brüdern am Reich Gottes mitarbeiten konnte. Ich suchte eine Gemeinschaft, die gegen die Ungerechtigkeiten der Welt aufsteht, den Bösen den Garaus macht und die Unterdrückten befreit. Das Magnifikat war für mich ein Befreiungsgesang der Kleinen, die sich gegen die Grossen stark machen. Da wird umgeschichtet, neu verteilt. Die Mächtigen neu unten und die Unterdrückten neu oben. Die Welt wird auf den Kopf gestellt.
Doch steht das wirklich im Magnifikat?

Auch wollten wir Novizen damals, dass Gemeinschaft im Gottesdienst ernstgenommen wird. Wir brachten dies damals ins Hauskapitel und kamen durch. Die Priester forderten in den folgenden Gottesdiensten die Besucher und Besucherinnen dazu auf, während dem Gottesdienst in die vorderen Reihen zu kommen und nicht hinten in der Kirche sitzen zu bleiben. Ob die Menschen daran Freude hatten oder sich eher vergewaltigt vorkamen?

Das war vor dreissig Jahren. Und heute? Vieles anders!

Ehrlicherweise schäme ich mich heute selber etwas, während dem Gottesdienst vorne in der Kirche zu sitzen. Mein Platz ist gefühlsmässig im hinteren Drittel dieser Kirche. Und das nicht, weil Jesus in einem Gleichnis das hinten sitzen gelobt hat und das vorne Sitzen in den Zusammenhang von Selbstgerechtigkeit gestellt hat. Nein, es ist die gesunde Scham, die mir sagt, da hinten ist ein guter Platz und da bist du zu Hause; da fühle ich mich wohl.

Bin ich damit auf dem Holzweg? Nein, damit bin ich ein Mensch unserer Zeit. Der Theologe Kristian Fechtner verbindet für heutige Christen und Christinnen Scham und Religion. Er spricht von einem diskreten Christentum. Und das zeigt sich konkret auch darin, dass viele Menschen lieber hinten in der Kirche sitzen und so etwas Distanz zum Altar haben. Das diskrete Christentum zeigt sich aber auch im Alltag; und es ist immer mehr meine Art von Glauben geworden.

Von Maria lesen wir in Lukas 2,19: «Maria aber bewahrte alle diese Worte und erwog sie in ihrem Herzen». Ja, eine solche Herzens-Religion ist mir in den vergangenen Jahren aufgegangen, wichtig und vertraut geworden. Auf eine laute oder sogar brutale Umsturz-Religion baue ich heute nicht mehr. Im Gegenteil. Sie macht mir Angst. Ihr fehlt es an Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Liebe und Tiefe.

Und wenn ich heute immer noch oft und gerne das Magnifikat bete, dann höre und verstehe ich diesen Lobgesang Mariens nicht mehr umstürzlerisch, sondern vertrauend und prophetisch. Was steht nun in diesem wunderbaren Gebet und was habe ich früher vielleicht hineingelesen?

  • Denn der Mächtige hat Grosses getan – nicht ich, Adrian, und nicht ein anderer Mensch hat hier grossartig gehandelt. Gott selbst wirkt und verändert Menschen und Lebens-Situationen! Und zwar:
  • Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind – ebenso junge Kapuziner, die die Welt auf den Kopf stellen möchten. Die die Bösen vielleicht sogar leiden sehen möchten. Doch, Gott wirkt anders, diskreter, schöpferischer, lebensbejahender.
  • Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Früher dachte ich jeweils, dass anschliessend die Mächtigen unten sind und die Niedrigen oben. Doch steht das nirgends. Heute stelle ich mir vor, dass es da nicht um Bestrafung geht, sondern alle werde als Kinder Gottes auf dieselbe Stufe gestellt. Als Geschwister loben wir gemeinsam Gott und seine Schöpfung. Dafür müssen die einen heruntersteigen und die anderen hinaufsteigen. Dann stehen wir auf derselben Stufe.
  • Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Auch hier stelle ich mir heute nicht mehr eine Umkehrung der Verhältnisse vor, sondern einen Ausgleich. Hungernde und Reiche sollen Nahrung haben und leben können. Dazu brauchen die Hungernden Gaben, die Reichen haben diese ja schon. Das Getreide ist für alle da. Alle dürfen satt werden. Fair verteilt. Dann gibt es keine Hungernden mehr. Ein friedlicher und fairer Ausgleich der Güter also.

Und genau solche Bewegungen feiern wir an Mariä Himmelfahrt. Hier handelt Gott und wir gedenken, wie Gott Maria bei sich aufgenommen hat. Wir werden eines Tages die nächsten sein, die von Gott aufgenommen werden. Im Moment heisst das Taten der Gerechtigkeit tun. Das Leben allen Menschen, der ganzen Schöpfung fair ermöglichen. So kann ich mich eines Tages ihrer, wie auch meiner eigenen Himmelfahrt freuen. Denn der Mächtige hat Grosses an mir getan und sein Name ist heilig. Das werden wir eines Tages gemeinsam mit Maria und Jesus von Nazareth singen. Denn der Mächtige hat Grosses an uns getan und sein Name ist heilig. Amen.

Hinabsteigen und sehen, wissen

Predigt vom 24.07.2022, Gen 18,20-32; Lk 11,1-3

Liebe Mitfeiernde

«Wie sage ich es meinem Kinde?» Ist eine didaktisch wichtige Frage für Eltern und Erziehungspersonen. Für Gott stellt sich diese Frage auch immer wieder neu: «Wie sage ich es meinem Menschen?» Oder hier: «Wie sage ich es dem Abraham?»

Die Lehr-Situation im Buch Genesis stelle ich mir folgendermassen vor. Der gastfreundliche Abraham und seine Frau bewirten drei fremde Männer – und wir alle – auch Abraham – wissen, dass die drei Gott sind. Mag sein, dass Abraham über die Städter in Sodom und Gomorra geklagt hat und sie weghaben möchte. Ähnlich geht es mir heute mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Er geht mir auf die Nerven und ich mag nichts mehr davon hören. Da soll doch bitte einmal einer durchgreifen und für Ordnung sorgen! Da weder mächtige Politiker:Innen noch Religionsvertreter:Innen etwas zu bewirken scheinen, soll doch Gott mal selber hingehen und durchgreifen. Oder etwa nicht?

Im Buch Genesis sagt Gott zu Abraham, dass er sich die beiden Städte mal genauer ansehen will und die drei Männer brechen nach Sodom auf. Doch jetzt geht Abraham in sich und auch wir wissen heute, dass einige Atombomben über Russland und der Ukraine die Probleme nicht wirklich lösen. Zur Problemlösung gibt es keinen roten Knopf! Abraham realisiert, dass es auch in Sodom und Gomorra gute und gerechte Menschen gibt. Und vielleicht ist er und auch wir nicht ganz lupenrein. Im Tagesevangelium lehrt uns Jesus jedenfalls auch entsprechend zu beten: «Und erlass und unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist» (Lk 11,4).

Abraham beginnt mit Gott zu verhandeln und ist mächtig stolz auf sich: «Siehe, ich habe es unternommen, mit meinem Gott zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin» (Gen 18,27). Und Abraham nimmt allen Mut zusammen und handelt bis zu zehn Gerechten herunter. Nun, ich habe nicht den Eindruck, dass wir Menschen Gott herunterhandeln müssen, eher dass wir Menschen ab und zu unseren eigenen Zorn und Eckel, aber auch unsere Ängste und Befürchtungen etwas beruhigen müssen. Interessanterweise spricht Gott im Buch Genesis nichts von Zerstörung und Richten. Sondern: «Ich will hinabsteigen und sehen, … Ich will es wissen» (Gen 18,21). Abraham hat seine Lektion gelernt. Es gibt auch in Sodom und Gomorra gerechte Menschen, wie es diese auch in der Ukraine wie auch in Russland gibt – wenn auch ich diesen Krieg als Sünde wahrnehme und im Moment keine Lösungen für Gerechtigkeit und Frieden wüsste.

Hinsehen und Wissen nehme ich aus der wunderbaren Erzählung im Buch Genesis für heute mit. Jesus von Nazareth ergänzt im Lukas-Evangelium noch mit gemeinsam Beten, selbstkritisch sein, vergeben und sich gegenseitig unterstützen – dem Freund auch um Mitternacht Brot geben – sowie um den Heiligen Geist zu bitten.

Ich weiss, den Fisch hätte ich lieber in den Händen als nur versprochen. Und trotzdem tut es immer wieder gut, biblische Sätze zu verkosten, zu lernen, zu meditieren und manchmal zu erleben, dass sie sich auch erfüllen!

«Darum sage ich euch: Bittet und es wird euch gegeben; sucht und ihr werdet finden; klopft an und es wird euch geöffnet. Denn wer bittet, der empfängt; wer sucht, der findet, und wer anklopft, dem wird geöffnet» (Lk 11,9-10).

Neun Monate nachdem die drei Männer den betagten Abraham verlassen hatten, bekam Sarah ihr erstes Kind und es entstand – so jedenfalls die Bibel – ein grosses und fruchtbares Volk. Das scheinbar unfruchtbare Ehepaar wird zu dessen Stammeltern. Was in der Begegnung noch Verheissung war, wurde zur Realität. Jesus verheisst im heutigen Tagesevangelium: «der Vater im Himmel wird den Heiligen Geist denen geben, die ihn bitten» (Lk 11;13). Um den Heiligen Geist bitte ich in diesen Tagen besonders gerne.

Hinsehen und Wissen, gemeinsam Beten, Selbstkritisch sein, vergeben und sich gegenseitig unterstützen sowie um den Heiligen Geist zu bitten – das sind die sieben Punkte, die mich, die uns in den kommenden Tagen begleiten können. Und vergessen sie das Bitten, Suchen und Anklopfen nicht. Da ist Gott und der Heilige Geist in allen Dingen. Vielleicht hilft das leichter und gelassener in schwierigen und herausfordernden Zeiten zu leben, ohne die Augen zu schliessen. Amen.

Drei Eins machen Eins

Predigt zum Dreifaltigkeitssonntag, 12. Juni 2022, Spr 8,22-31; Joh 6,12-15

Liebe Christen, liebe Christinnen,

ein Gebet beginnen wir oft mit «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes». Psalmen und andere Gebete beenden wir manchmal mit dem «Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist». Im liturgischen Grundsatz heisst es: «So, wie die Kirche betet, so glaubt sie». Wir glauben also die Trinität. Manchmal beten wir auch Dinge, die wir nicht verstehen oder vielleicht gar nicht wirklich verstehen können. Mir geht es oft so mit der Trinität – und heute am Dreifaltigkeitssonntag ist es wohl wieder einmal an der Zeit, sich über unseren Dreifaltigkeits-Glauben Rechenschaft zu geben.

Und diese Rechenschaft wird in den letzten Jahren wieder vermehrt von uns gefordert. Vor allem muslimische Freunde und Freundinnen fragen nach: «Glaubt ihr nun an einen oder an drei Götter?» Wir glauben an den einen Gott, das ist schnell gesagt. Und jüdische Freunde und Freundinnen weisen uns darauf hin, dass es in der hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, gar keine Lehre der Dreifaltigkeit gäbe – und damit haben sie auch recht.

Aus dem Buch der Sprüche haben wir in der Lesung die Weisheit Gottes sprechen hören: «Gott hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit». Die Weisheit Gottes gab es also schon vor der Schöpfung der Welt. Und später kommen meine beiden Lieblingssätze dieser Perikope: «Ich war als geliebtes Kind bei Gott. Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit». Welch ein Bild. Wie ist es zu verstehen?

Im heutigen Tagesevangelium nach Johannes sagt Jesus: «Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, er wird euch in der ganzen Wahrheit leiten». Jesus selber hat noch nicht alles gesagt. Und in diesem Bibeltext heisst es auch: Alles, was mein Vater hat, ist mein;». Jesus, Geist und Vater kommen also im Johannesevangelium vor. Und trotzdem, für uns Christen und Christinnen ist es wichtig, dass wir an den einen Gott glauben. Und gerne zitieren wir dazu aus dem Buch Deuteronomium: «Höre Israel! Der Herr, unser Gott, der Herr ist einzig». Und an diesem Bekenntnis kommen wir nicht vorbei und wir halten es auch hoch. Es gilt nicht nur den Juden und Jüdinnen. Und wenn wir Christen und Christinnen über die Trinität sprechen, dann stellen wir damit unseren Ein-Gott-Glauben nicht in Frage.

Ich möchte mich hier nicht in die Trinitätstheologie vertiefen. Es gibt für mich einige praktische Gründe dafür, dass wir Gebete oft mit «Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes» beginnen oder mit «Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist» beenden. Vier Punkte fallen mir ein:

  1. Gott bleibt uns Geheimnis: Nein, Gott lässt sich nicht auf den Punkt bringen – auch wenn wir Menschen es oft versuchen. Er ist nicht zählbar, wie es Menschen gerne hätten. Er passt nicht in unsere Ordnung der Zahlen. Er ist weder Mensch noch Mann noch Frau, eben Gott. Er bleibt das geheimnisvolle DU. Er ist anders als anders. Eins und drei – und trotzdem einzig.
  2. Gott ist nicht einsam, aber Begegnung in sich selber: Vor uns steht kein einsamer Gott, wie ich ein einsamer Mensch sein kann. Der EINE ist Leben und Gemeinschaft in sich selber. Mir gefällt das Bild der überschäumenden Liebe. In Gott lebt so viel Liebe, dass er diese Liebe auch nach aussen tragen will, kann; auch zu uns Menschen.
  3. Gott begegnet uns in der Weltgeschichte im Menschen Jesus von Nazareth: Er ist zwar in Jesus in unsere Welt und Geschichte eingetreten, aber er geht darin nicht auf; als Jesus Christus ist und bleibt er Gott – was das auch immer heissen mag. Und auch Jesus Christus ist mir ein Geheimnis. Da gibt es Menschliches, was ich erahnen, teilweise verstehen kann. Doch bleibt mir sein Gott-Sein fremd. Vielleicht ist ja schon «Gott-Sein» ein falscher Ausdruck.
  4. Gott ist immer bei uns, in unserer aller Herzen: «Es war meine Freude bei den Menschen zu sein». Diesen biblischen Satz muss ich wiederholen: «Es war meine Freude bei den Menschen zu sein». Schön ist Gottes Weisheit gerne bei, mit und in uns! Das tut so gut, gibt Hoffnung und Vertrauen. Aber eine konkrete Vorstellung dazu habe ich keine.

Für die Vorstellung «Gott ist mit Freude bei uns» habe ich im Hinduismus eine wunderbare Erzählung gefunden, die ich mit euch teilen, geniessen möchte. Der hinduistische Gott Krishna sehen wir auf Bildern oft Flöte spielend dargestellt Eine Erzählung dazu geht in meinen Worten so: Krishna erscheint auf der Erde als Hirt verkleidet und beginnt freudig einmalige Melodien zu spielen. Die Hirtinnen hören die himmlischen Klänge und lassen ihre Kühe sowie ihre Männer unbedient stehen, legen die Arbeit nieder und folgen dem Flötenspiel und beginnen im Takt der Flöte zu tanzen. Als viele Hirtinnen um Krishna herumtanzen, gibt es zu wenig Platz zum Tanzen und unter den Hirtinnen Streit, wer am nächsten bei Krishna sein dürfe. Diesen Streit will der göttliche Flötenspieler vermeiden; er möchte den Menschen Freude bringen. Krishna zieht sich zurück und kommt seither in ganz vielen Flöte spielenden Hirtengestalten auf die Erde und spielt jeder Hirtin ihr persönliches Lied. Er spielt allen. Und trotzdem bleibt Krishna einer. Gott kann das! Ach ja, liebe Männer, wir bleiben von diesem Tanz nicht ausgeschlossen. In Indien tragen an diesem Krishna-Gedenktag die Männer Frauenkleider und kommen so auch zum Tanz, zur Gottesbegegnung mit Krishna. Halt etwas anders als erwartet! Aber immerhin!

Zum Schluss noch einmal meine praktischen Argumente für die Dreifaltigkeit, die Dreieinigkeit, die Trinität:
Gott ist und bleibt uns Geheimnis
Gott ist nicht zählbar, nicht quantifizierbar im menschlichen Sinn
Gott ist nicht einsam, aber Begegnung in sich selber
Gott ist in sich überströmende Liebe
Gott begegnet uns in der Weltgeschichte im Menschen Jesus von Nazareth, aber …
Gott ist immer bei uns, in unserer aller Herzen
– auch heute, bei ihnen und bei mir. Und er bleibt trotzdem einer. Amen.

Plädoyer für die Freiheit Gottes

Aus dem Franziskuskalender 2023: Wenn man wahrnimmt, was Menschen über Gott schreiben, beten und sagen, wird das Korsett für den allmächtigen Gott manchmal sehr eng. Er wird in allzu menschliche Vorstellungen eingesperrt.

Im biblischen Buch Hosea ist häufig zu lesen: «Denn Gott bin ich und nicht Mensch.» (frei nach Hos. 11, 9) Wenn man exakt aus dem Hebräischen übersetzen würde, dann wäre richtigerweise Mensch mit «Mann» zu übersetzen: Denn Gott bin ich und nicht Mann!

Aber eben, Männer stellen sich Gott als Mann vor und denken, sie seien wie er. Oder sogar: Gott sei wie wir Menschen, Männer. Darum soll er stark, unbezwingbar, siegreich und vor allem allmächtig sein. Doch, vielleicht ist Gott eben Gott, und so weder menschlich noch männlich. Vielleicht ist er anders, ausserhalb unseres menschlichen Vorstellungshorizontes; eben frei und eigen, geheimnisvoll und uns nicht bekannt.

Die Kritik der Vereinnahmung Gottes durch die Menschen ist nicht neu. Im alten Griechenland war es der Philosoph Xenophanes (ungefähr 570-475 vor Christus), der die menschlichen Gottesvorstellungen von Homer und Hesiod kritisierte und diese pointiert formulierte:

«Wenn die Pferde Götter hätten, sähen sie wie Pferde aus.» Wenn also Männer Götter haben, dann sehen sie wie Männer aus! Diese Vereinnahmung Gottes ist bis heute aktuell und scheint es zu bleiben. Aber eben: «Gott bin ich und kein Mann!»

Ernüchterung

Christen und Christinnen werden hier vielleicht Einspruch erheben, wie Menschen anderer Buchreligionen auch. Uns Menschen wurde offenbart, Gott hat sich gezeigt. In heiligen Büchern wurde ja von auserwählten Menschen beschrieben, wie Gott ist (auch im Hosea-Zitat).

Doch wie steht es um unsere alltäglichen Erfahrungen mit dem allmächtigen, helfenden und rettenden Gott? Wir singen ja laut und überzeugt: «Er hat die ganze Welt in seiner Hand.» Wirklich? Vielleicht spricht die niederländische Mystikerin Etty Hillesum, 1943 in Ausschwitz gestorben, heutiges Lebensgefühl mit ihren Aufzeichnungen im Tagebuch eher an:

«Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können. Ich fordere keine Rechenschaft von dir. Du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.»

Im Schweigen und Nichterfahren die Hoffnung, die Erinnerung an Gott nicht verlieren.

Gegen die Geschwätzigkeit

Der Kirchenlehrer Gregor von Nazianz kritisierte schon im vierten Jahrhundert die «Geschwätzigkeit und das masslose Lehren der Theologen». Dionysios Areopagita ging im fünften Jahrhundert mit menschlichen Zuschreibungen an Gott besonders hart um. Zwar sei Gott der Urheber aller Eigenschaften der Dinge, und daher habe er eine tiefe positive Beziehung zu ihnen, aber er bleibe jenseits des Seins.

Daher müsse man ihm noch viel mehr die Eigenschaften der Dinge absprechen, derart, dass «die Negationen bei den göttlichen Dingen wahr, die positiven Aussagen hingegen der Verborgenheit der unaussprechlichen Geheimnisse unangemessen sind». Menschliches Sein und göttliches Sein sind verschieden und deshalb nicht zu vermischen.

Die Westkirche hielt um 1215 am vierten Laterankonzil fest: «Zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf kann man keine so grosse Ähnlichkeit feststellen, dass zwischen ihnen keine noch grössere Unähnlichkeit festzustellen wäre.»

Ebenso ist es beispielsweise mit der menschlichen Vorstellung von der Allmacht Gottes, die der wahren Allmacht Gottes völlig unähnlich ist. Der allmächtige Gott wird in Jesus von Nazareth von Männern ans Kreuz geschlagen, was wenig mit menschlichen Allmachtsvorstellungen zu tun hat. Menschlich gesehen hat das mit Ohnmacht, Scheitern zu tun.

Liebe den Nicht-Gott

Sollen Menschen aufhören von Gott zu reden und ihn und sein ganz Anderssein vergessen? Dies auf die Hoffnung hin, zumindest nichts falsch zu machen und keinen Irrtümern aufzusitzen.

Einer der berühmtesten Philosophen des 20. Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, riet: «Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.» Dann wäre die Freiheit Gottes gewährleistet.

Und trotzdem fühlen sich Christinnen und Christen gerufen und gesendet, das Reich Gottes zu leben und daran mitzubauen. Dabei wissen sie, dass es Gott ist, der dieses Reich aufbaut und nicht wir Menschen, wenn sie auch vom Leben Jesu her wüssten, wie sie mitbauen können. Vielleicht kann uns dabei der Mystiker Meister Eckhart eine Orientierung sein: «Du sollst ihn lieben, wie er ist: ein Nicht-Gott, ein Nicht-Geist, eine Nicht-Person, ein Nicht-Bild.»

Von Gott also nichts wissen, aber ihn lieben. Und allfällige Vorstellungen immer wieder beiseiteschieben und übersteigen. Denn Gott ist und bleibt anders – eben frei. Mann – Mensch – lass Gott Gott sein.

Kasten : Einige Gedanken und Zitate finden sich im Abschnitt «Negative Theologie – positiv», S. 129-130, in Johannes Röser, Auf der Spur des unbekannten Gottes, Christsein in moderner Welt, Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien, 2021. Das Buch ist sehr zu empfehlen und deckt einen weiten Horizont menschlichen Gott-Suchens ab.

Warten und Erwarten

ITE 2022.2 Warten ist stets an einen konkreten Zeitabschnitt und bestimmten Ort gebunden. Einerseits sollen solche Warteräume in der modernen Welt verschwinden oder überdeckt werden, andererseits wird gerade das Warten wieder als neue Kraftquelle entdeckt. Dann kann sich das Warten vom Erwarten entkoppeln.

Der schmächtige Bruder Josef Hangartner selig war bei den Menschen sehr beliebt – und dies trotz des Umstandes, dass er seine Meinung gut und gewandt vertreten konnte. In jüngeren Jahren war er in Zürich ein geduldiger und überzeugter Hausmissionar. Dabei war der nette Bruder nicht nur auf der Kanzel bekannt für seine eindeutigen Ansichten, sondern später auch mit seinen Leserbriefen in den Redaktionen. Und bei dieser Geschichte hier geht es um den Warteraum im neugebauten, besser, im Burgenstil rückgebauten Bahnhof Rapperswil.

Vor dem Rückbau des Bahnhofs gab es im Hauptgebäude einen gemütlichen und bequem eingerichteten Wartesaal. Wem das lebendige Kloster am See zu unruhig wurde, der konnte sich in diesen Warteraum der Bahn zurückziehen und herunterfahren – gedacht und genutzt wurde dieser Raum von Menschen, die auf einen Anschluss warten mussten. Und da dies (früher) des Öfteren vorkam, gab sich die SBB Mühe, diesen Ort auch mit Lebensqualität auszustatten. Alte Bahnhöfe kennen manchmal heute noch berühmte und künstlerisch gestaltete Wartesäle. Vor allem die Decken mittelgrosser Bahnhöfe wurden von schönen Bildern bekannter Künstler geziert.

Vergangene Kultur des Wartens

Nach dem Umbau des Bahnhofs Rapperswil wurde in der zentralen Halle ein Kaffi eingerichtet. Als Bruder Josef eines Tages hinsass, um einen Gast zu erwarten, kam die Kellnerin und fragte freundlich, was er sich wünsche: «Ich möchte hier im Wartesaal auf einen Freund warten und habe im Kloster gut gegessen», war Josefs klärende Antwort. Er hatte also keinen Wunsch offen. Die freundliche Bedienung zeigte dem alten Mann die Schiebetüre, die im neuen Gebäude automatisch auf und zu geht. So stand Bruder Josef bald wieder draussen vor der Türe und fror im Winter an der Kälte, wartete auf seinen Freund – und genau da entstand in seinem Kopf ein Leserbrief; der dann zu Hause nur noch mit der Speicherschreibmaschine in die Tasten gehämmert werden musste.

Josef wurde nett darauf hingewiesen, dass es neu auf den Perrons, ganz nahe bei den Zügen, Wartekabinen gäbe, die im Winter sogar geheizt seien.

Doch mit der Kultur des Wartens und Geniessens konnte der Kapuziner diese funktionalen Kabinen nicht mehr in Verbindung bringen. Wenn er im schönen Raum des ehemaligen Wartesaales sein wollte, dann war er gezwungen zu konsumieren. Oder beim Warten eben auf engen Gitterbänken, hinter Plexiglas-Scheiben ausgestellt, auf dem Perron zu verweilen. Und wenn es kalt ist, dann stehen die Wartenden dicht gedrängt und hoffen nur noch, dass der Zug bald kommt. Hier wird das Warten funktional reduziert und mühsam.

Ein Ende des Wartens

2016 war im Blick zu lesen «SBB schliesst Luxus-Lounges in Zürich und Genf. Weil man an den Bahnhöfen in Zürich und Genf kaum mehr auf Anschlusszüge warten muss, schliesst die SBB ihre 1.-Klass-Lounges per Ende 2016». Begründet hat die SBB diese Entwicklung mit den stets kürzer werdenden Anschlusszeiten und den besser werdenden Verpflegungsmöglichkeiten in und um die Bahnhöfe. Deshalb seien diese Lounges von den Reisenden nicht mehr gefragt. Und folgerichtig werden moderne Bahnhöfe immer mehr zu Verpflegungs- und Einkaufszentren, Konsumtempeln und sind nicht mehr Orte des Verweilens und Wartens. Und oft staunt man, dass es am Bahnhof überhaupt noch Züge gibt. Warten wird dann mit Konsum und Shoppingzeit gleichgesetzt und manchmal künstlich verlängert.

Ist Warten etwas, was abgeschafft gehört? Ist Warten etwas Neues, das erst an den Bahnhöfen erfunden worden ist? Warten besteht aus einer Zeitspanne an einem bestimmten Ort in Erwartung von Etwas, beispielsweise einem Zug. Im Zusammenhang mit dem Reisen geht es einerseits darum, Wartezeiten zu reduzieren und am liebsten zu eliminieren. Andererseits lässt sich in den Bahnhöfen gut beobachten, wie diese für Menschen und Menschengruppen zu beliebten Treffpunkten geworden sind. Orte, wo sich einander bekannte oder unbekannte Menschen treffen und unterhalten können.

Die Menschen warten, seitdem es Menschen gibt.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass Menschen vermutlich warten, seitdem es Menschen gibt. Der Jäger wartete auf das zu erlegende Tier und kannte den richtigen Zeitpunkt und Ort dazu. Sammler und Bauern mussten warten, bis die Pflanzen gewachsen und reif zum Essen sind. Dazu mussten auch sie schon zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein. In der Wüste gibt es keine Äpfel zu ernten. Hirten wandern heute noch mit ihren Tieren zur richtigen Jahreszeit an den Weideort und warten, bis die Tiere das Gras gefressen haben. In Schweizer Bergtälern gibt es eine klar definierte Bergwirtschaft mit vorgegebenen Wartezeiten. Vor allem die Walser waren in der Schweiz geschickte Berghirten, die genau wussten, wann das Vieh wo sein muss. Und eben, wie lange man warten muss, um höher oder tiefer zu ziehen.

Das Gebet als Warten und Aushalten

Stimmungsvoll flackern die Kerzen in der Antoniusgrotte in Rapperswil. Ein kleiner dunkler Raum mit einem Ambiente, das zum Verweilen einlädt. Ein Vater tritt mit seinen beiden Kindern ein. Diese stolpern mit glänzenden Augen zum Kerzenständer. «Eine Kerze für unsere Omi», sagen sie ganz ernst. Omi ist im Spital und die Familie hofft, dass sie gesund wird. Beim Anzünden denkt der Mann an die schwierige Situation am Arbeitsplatz. Hoffentlich muss Elmar die Firma nicht verlassen. Schweigend schauen sie in die flackernden Kerzen. Etwas abseits im Dunklen sitzt eine Frau innerlich unruhig in schwere Gedanken versunken. Ihr Mann hatte einen Herzinfarkt und sie hofft, dass das gemeinsame Leben noch lange glücklich weitergeht. «Karl ist ein guter Vater und Ehemann», geht ihr durch den Sinn. Im Moment handeln die Ärzte, und sie ist hier in der Stille am Warten. Erwartet einen gemeinsamen Lebensabend, der hoffentlich wunderbar wird.

Warten selbst hat eine Qualität, die gepflegt und genossen werden darf.

Das Leben kennt spezielle Warteräume und auch diese sind in Veränderung. Vor allem im Mittelalter war das irdische Leben der Ort und die Zeit des Wartens auf das ewige Leben an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit – eben die Ewigkeit. Theologinnen und Theologen betonen sehr, dass Ewigkeit nichts mit irdischer Zeit zu tun hat. Auch heute noch gibt es Menschen mit solchen Jenseitsvorstellungen.

Andere Stimmen lassen das «Nachher» offen und betonen das gute Leben im Jetzt. So oder so gehört Warten zum Leben. Vielleicht kann mit der Beschleunigung und der Planung des Lebens «Wartezeit» verkürzt werden. Oder vielleicht ist von Bruder Josef zu lernen, dass Warten selbst auch eine Qualität hat, die gepflegt und genossen werden darf.

Eine Spiritualität des Wartens

Pflücke die alltäglichen Wartezeiten als Geschenk und fülle sie mit deiner, vielleicht auch mit Gottes Gegenwart. Schliesse auf dem Perron die Augen und atme tief durch. Komme an der Bushaltestelle zuerst einmal bei dir an und verweile. Sehne dich nach diesen Dichtemomenten des Glücks und des Alltags. So kann man es von spirituellen Lehrern und Lehrerinnen hören. Nimm dir die Zeit an jedem Ort, in jedem Moment, der sich bietet, zu warten, vielleicht auch zu erwarten, dass Gott kommt, dass das Leben Tiefe und Weite erhält, dass du da bist und lebst. Doch schon das Warten selber hat seinen Sinn und seine Wirkung. Denn das Meditieren soll ja, so zeigen auch wissenschaftliche Untersuchungen, gesund sein.

Niemals – niemand – niemand

Predigt vom 8. Mai zu Offb- 7,9.14b-17 und Joh 10,27-30

Liebe Mitfeiernde am Tisch des Wortes Gottes

Ich kann mich noch gut an die 80iger Jahre erinnern. Da war meine Angst vor einem Atomkrieg auch schon präsent. Filme handelten vom Tag danach und Menschen gingen auf die Strasse. Relativ lange waren diese Atombomben in den letzten Jahren fast vergessen, zumindest nicht mehr bedrohlich. Nun ist die Angst wieder zurück. Ein nukleares Kriegs-Szenario weckt in mir Aggressionen und es entstehen innerlich Gottesbilder von einem Gott, der Ordnung schafft und eingreift. Da kann Gott doch nicht nur zusehen; ER, der Allmächtige, der Schöpfer von Himmel und Erde; ER, der Schöpfer von Menschen.

Vor einigen Tagen hat mich bei meiner morgendlichen Meditation folgender Text von Andreas Knapp (in: Tiefer als das Meer, Gedichte zum Glauben, Regensburg, Echter 2018) sehr angesprochen und zum Nachdenken angeregt:

der Herr

wer den Thron deines Herzens besetzt
zu dem du aufschaust
den du anhimmelst
der dich beherrschen darf
den machst du zu deinem Herrn

ER steigt vom Thron des Himmels herab
begegnet dir auf Augenhöhe
kniet sich nieder auf die Erde
und wäscht dir die Füsse
so herrlich will die Liebe sein

Stimmt. Wen mache ich heute zu meinem Herrn? Die Angst vor einem Atomkrieg, einem Weltkrieg. Mächtige Menschen, die über Armeen und Waffen verfügen, Geld und Einfluss haben. Nein. Solche Menschen sollen und dürfen nicht meine selbstgemachten Herren sein. Darauf kann ich verzichten und von ihnen will ich mich nicht provozieren und bestimmen lassen. Sie haben kein Recht auf meine Angst oder sogar meine Ehrfurcht. Weg damit! Diese Herren sollen nicht mein Herz besetzen. Zu solchen Mächtigen will ich nicht aufschauen oder sie sogar anbeten. Waffen, Atombomben dürfen meine Vorstellungskraft nicht beherrschen mich innerlich aggressiv werden lassen; und ihre Besitzer sind nicht meine Herrn.

Und wie ist nun unser Vater im Himmel wirklich, ER, der uns alle zu Geschwistern macht? In der Lesung und im Tagesevangelium finden sich wunderbare Motive, Themen und Bilder für einen liebenden, aufmerksamen und barmherzigen, mütterlichen Gott. Diese biblischen Bilder zeugen vom Vertrauen auf eine Gottes-Beziehung, die alles und alle Zeiten überdauert.

Das heutige Tages-Evangelium versichert mir, dass Gott mich kennt und ich von ihm ewiges Leben erhalten habe. Ich werde niemals zugrunde gehen und niemand kann mich Gottes Hand entreissen. Auch keine Atom-Bomben. Welch eine Verheissung in die heutige Kriegs-Angst-Situation hinein. Und weil ich Trost wirklich nötig habe, wiederholt und betont das Johannes-Evangelium drei Mal: niemals, niemand, niemand.
Sie werden niemals zugrunde gehen
niemand wird sie meiner Hand entreissen
niemand kann sie der Hand meines Vaters entreissen.

Welch eine Botschaft an uns! Das ist ihnen, mir, uns allen zugesagt. Können wir diese Worte annehmen und glauben? Das stete Wiederholen und Betonen in diesem kurzen Text zeigt, dass Menschen immer wieder neu auf diese Verheissung hingewiesen werden müssen. Wir sind von Jesu Hand und von des Vaters Hand gehalten und niemals wird das anders sein. Gegeben ist uns ewiges Leben, sagt das heutige Tages-Evangelium kurz und klar.

Mag sein, dass die Lebens-Vision im heutigen Tages-Evangelium in glücklichen Tagen reicht. Doch in Tagen der Krise, des Leidens, des Krieges braucht es vielleicht mehr. Davon zeugt die Lesung aus der Offenbarung des Johannes, welche für schwierige Zeiten geschrieben ist. «Sie werden keinen Hunger und keinen Durst mehr leiden und weder Sonnenglut noch irgendeine sengende Hitze wird auf ihnen lasten», ist da zu lesen. Die Offenbarung macht klar, dass es eine schwierige Gegenwart gibt, geben kann. Doch sind Hunger und Durst, Leiden und Ängste keine Zustände für die Ewigkeit. Sie werden von Gott überwunden. Aber nicht von einem gewalttätigen Herrn, nicht von einem selbstgemachten Gottesbild.

Johannes sieht eine grosse Schar aus allen Nationen und Stämmen, Völkern und Sprachen zusammenkommen; niemand kann sie zählen (also auch UkraninerInnen, Russen/Russinnen, SchweizerInnen, AmerikanerInnen, Chinesen/Chinesinnen etc.). Und dann sein grossartiges, feines und friedliches Schluss-Bild:
«Denn das Lamm in der Mitte vor dem Thron wird sie weiden und zu den Quellen führen, aus denen das Wasser des Lebens strömt, und Gott wird alle Tränen von ihren Augen abwischen.» So schön. Gott wird alle Tränen von unseren Augen abwischen.

Jesus als das Lamm, welch ein Kontrast zu den kriegerischen Bildern und Texten von heute. Und dieses Lamm weidet und tränkt uns Menschen. Geschenkt wird uns das Leben und nicht der Tod. Gott macht mir Mut und wischt meine Tränen, meine Angst ab. Einen solchen Glauben, ein solches Vertrauen, inneres Wissen, wünsche ich Ihnen, mir, in diesen mühsamen und schwierigen Tagen ganz speziell.

Liebe Mitfeiernde am Tisch des Wortes Gottes

Zum Glück muss ich nicht selbstgebastelten Gottesbilder vertrauen, die aus meiner Angst und Aggression geboren sind. Zum Glück zeigen mir die Bibel, die heutigen Sonntagstexte, einen tröstenden und lebensspendenden Gott, der mich auch schwierige Zeiten in Vertrauen leben lässt. Amen.